Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Welcome Trend mit „LilLi“ Lebensqualität im letzten Lebensabschnitt integrieren

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„Leider ist die Anmeldung schon seit 20 Minuten geschlossen!“ Die Ordinationsassistentin sieht mitleidig auf meinen Sohn, dann zu mir. „Aber versuchen Sie es doch einmal oben beim Bahnhof bei Dr. Klapper, die haben jetzt immer bis 19 Uhr offen.“ Meinen Sohn im Schlepptau grummle ich leise vor mich hin, mache mich aber trotzdem auf den kurzen Weg zu diesem anderen Arzt.

Schon bei der Aufnahme bin ich positiv überrascht, es ist angenehm ruhig im Wartbereich, keine Hektik oder Gedränge. Theo lässt sich mit einem Seufzer auf eine Bank fallen und wir schauen, was das „Wartezimmer TV“ zu bieten hat. „Willkommen im Primärversorgungszentrum Meidling“ heißt es und etliche Mitarbeiter:innen unterschiedlicher Professionen, die hier arbeiten, werden präsentiert:  Allgemeinmedizin, Diätologie, Physiotherapie, Sozialarbeit, Pflege. Ein breites Spektrum an Unterstützungsmöglichkeiten für Patient:innen.

Die Implementierung und Entstehung von Primärversorgungeinheiten regelt in Österreich seit 2017 das Primärversorgungsgesetz. „In der ‚Neuen Primärversorgung‘ stehen künftig neben einem Team von Allgemeinmedizinern auch weitere Gesundheitsberufe mit ihrem zusätzlichen Wissen zur Verfügung. Hier können sich Patienten auch, wie gewohnt, ihren „Hausarzt“ bzw. ihre „Hausärztin“ wählen – wohnortnah und zu deutlich längeren Ordinationszeiten. Das Behandlungsspektrum reicht von Gesundheitsvorsorge über Akutversorgung bis zu Rehabilitation und Pflege.“

Wie es der Zufall will, treffe ich ein paar Tage später DGKP Sabine Kiesenebner-Achleitner zum Gespräch über ihre Masterarbeit, die sich mit dem Thema „Kriterien zur Implementierung frühzeitiger Palliative Care Angebote in Primärversorgungseinheiten“ beschäftigt.

Marianne Buchegger (MB):
Was unterscheidet Primärversorgungseinheiten oder -zentren (PVE) von einer Praxisgemeinschaft?

Sabine Kiesenebner-Achleitner (SKA)
„Grundsätzlich sollen PVE wohnortnah medizinische Grundversorgung bieten. Der Unterschied zu den Praxisgemeinschaften liegt in der Diversität der Angebote. Praxisgemeinschaften sind Zusammenschlüsse mehrerer Ärztinnen und Ärzte in einer Ordination. Sie nützen lediglich gemeinsam die Räumlichkeiten.

In Primärversorgungseinheiten arbeitet hingegen ein multiprofessionelles Team zusammen – das immer von zumindest einer/einem Allgemeinmediziner:in geleitet wird. Im Kernteam arbeiten Pflegepersonen und Ordinationsassistent:innen, die weiteren Berufsgruppen sind variabel. Dem Team können Physiotherapeut:innen, Diätolog:innen, Sozialarbeiter:innen, Psychotherapeut:innen oder Ergotherapeut:innen angehören. Es geht darum, den Menschen mehr Therapieangebote mit Kassenverträgen vor Ort sowie zusätzlich auch mehr Hausbesuche anbieten zu können, um die Ambulanzen und die Krankenhäuser zu entlasten.“

MB
Die ersten Primärversorgungeinheiten entstanden in Österreich im Rahmen eines EU-Projekts, das noch bis 2026 läuft. Gibt es Vorgaben wie eine Primärversorgungseinheit strukturiert sein soll oder welche Berufsgruppen im Team vertreten sein müssen?

SKA
„Es gibt ein Leistungsprofil, die Primärversorgungseinheiten unterliegen aber keinen verpflichtenden Vorgaben für die Teamzusammenstellung. Die Gründer:innen sind in der Gestaltung sehr frei. Das hat mich dazu veranlasst, meine Forschungsarbeit der Fragestellung „Wer oder welche Personen erkennen den Bedarf an Palliativversorgung in ihrer Einheit?“ zu widmen. Primärversorgungseinheiten haben nicht nur für die allgemeine Grundversorgung großes Potenzial, eine sinnvolle Erweiterung des Angebots ist auch Hospiz und Palliative Care – in der Grundversorgung und in der spezialisierten Palliative Care-Versorgung. Die Notwendigkeit der Betreuung und Begleitung von Palliativpatient:innen wird im Primärversorgungsgesetzt explizit angeführt. Es gibt also einen Auftrag.

MB
Wie sieht es hier mit der Umsetzung aus?

SKA
„Im Rahmen meiner Studie waren alle Interviewpartner:innen der Meinung, dass die frühzeitige Einbindung von Hospiz und Palliative Care Angeboten in den Primärversorgungseinheiten sinnvoll ist. Die Scheu vor dem Tabuthema ist hier ein Hemmschuh. Es gibt nach wie vor Berührungsängste, vor allem bei Themen wie Medikation schwerkranker Personen oder Vorsorgedialog, generell stellt das fehlende Wissen um Hospiz und Palliative Care eine große Hürde dar. Letztlich ist die Frage „Ab wann ist Hospiz und Palliative Care notwendig oder angebracht“ für viele Berufsgruppen ohne entsprechende Vorkenntnisse nur schwer zu beantworten. Um die notwendige Versorgung und den empathischen Umgang mit Betroffenen und Angehörigen leisten zu können, braucht es Kriterien, Weiterbildung, Wissen und viel Fingerspitzengefühl.

Die Einführung eines Leitfadens zur Erkennung von palliativem Bedarf, ähnlich SPICTTM (Supportive and Palliative Care Indicators Tool) wäre eine Möglichkeit als Anhaltspunkt für die Mitarbeiter:innen in den Primärversorgungseinheiten. In Anlehnung an das SPICT Modell hat Sabine Kiesenebner-Achleitner im Rahmen ihrer Masterarbeit „LilLi“ für Primärversorgungseinheiten entwickelt. Darin sind auf einem DIN-A4-Blatt die Erkennungskriterien für den Palliative Care-Versorgungsbedarf zusammengefasst und Rahmenbedingungen beschrieben, um weitere Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.

MB
Wenn ich Deinen Gedanken und Ausführungen folge, wären Primärversorgungseinheiten eine perfekte Ergänzung für die Arbeit der Community Nurses. Gemeinsam könnten sie wesentlich zu einer Sorgenden Gemeinschaft oder einer Sorgenden Nachbarschaft beitragen.“

SKA
Das wäre ein guter nächster Schritt! Primärversorgungseinheiten sind durch die multiprofessionelle Betreuung prädestiniert für die Versorgung sterbender Menschen zu Hause, da könnten Community Nurses eine wichtige Konstante sein.

MB
So gesehen – könnten die Primärversorgungseinheiten eine wichtige Aufgabe in der flächendeckenden Versorgung mit Hospiz und Palliative Care spielen?

SKA
Ja, das ist richtig. Derzeit gibt es österreichweit ca. 40 Primärversorgungseinheiten. Eigentlich hätten bis 2021 schon 75 entstehen sollen. Das EU-Projekt „Attraktivierung und Förderung der Primärversorgung“ soll hier nochmal anschieben. Bis 2026 stehen 100 Millionen Euro zum Ausbau der Primärversorgungsstruktur zur Verfügung. Auch das Projekt Community Nurse läuft derzeit noch weiter.

Mein Wunsch ist, dass sich etwas bewegt, weitergedacht und gearbeitet wird – in Richtung Netzwerk und gemeinsamer Versorgung der sterbenden Menschen zu Hause. Primärversorgung und Palliative Care können sich hier gut ergänzen, um dem Ziel näherzukommen, dass alle Menschen, die das möchten, zu Hause gut begleitet und in Würde versterben können.“ Die Entlassung aus dem Krankenhaus scheitert häufig an der fehlenden Versorgung zu Hause.

Dazu braucht es Fachkräfte mit der nötigen Weiterbildung und Menschen in den Teams, die sich des Themas annehmen. Dazu ist es wichtig zu hinterfragen, welche Einstellung jedes Teammitglied persönlich zum Lebensende und zum Sterben hat. Es geht darum, Berührungsängste abzulegen, sich damit zu beschäftigen und mit Palliative Care-Expert:innen zusammenzuarbeiten. Um Palliative Care – Wissen im Primärversorgungsbereich zu integrieren, braucht es viele Akteure. Jeder ist aufgerufen und eingeladen, LilLi – Lebensqualität im letzten Lebensabschnitt zu integrieren.

MB
Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch führte Marianne Buchegger mit
DGKP Sabine Kiesenebner-Achleitner MSc., Akademische Expertin in Palliative Care,

Pflegeleitung Palliativstation, Salzkammergut Klinikum Vöcklabruck

Quellen:
https://www.gesundheit.gv.at/gesundheitsleistungen/arztbesuch/ordinationsformen.html
https://primaerversorgung.gv.at/standorte-pve-landkarte