Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Vielfalt in Hospiz und Palliative Care?

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Axel Doll war ursprünglich Krankenpfleger, hat Pflegepädagogik studiert und am IFF in Wien promoviert, seit 20 Jahren in der Lehre, Fort- und Weiterbildung in Hospiz und Palliative Care tätig, derzeit in der Lehre von Palliativmedizin für Medizinstudierende, und hat sich freundlicherweise bereit erklärt, ein Online-Interview für diesen Blog zu geben.

Ich bin als schwuler Mann lang geoutet, habe einiges zum Thema LGBTIQ+ geschrieben und auch ein Unterrichtsmodul für Palliative Care Kurse zu Sexualität entwickelt. Vor ein paar Jahren suchte die EAPC Mitarbeiter:innen für eine Task Force LGBT+ Inclusive Palliative & End-of-Life Care, da wurde ich von der DGP (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin) als deutscher Vertreter entsandt und habe die Empfehlungen mitentwickelt, die 2023 am King’s College London für die Verbreitung in 20-25 EU Ländern veröffentlicht wurden.

Wie sieht die aktuelle Situation in Bezug auf LGBTIQ+ Menschen in Hospiz und Palliative Care in Deutschland aus?

Es gab eine Studie zur Diskriminierung von LGBTIQ+ Menschen im Gesundheitswesen, dabei kam heraus, dass besonders Trans- und Inter-Menschen, aber auch Lesben, Schwule und Bi-Sexuelle vielfältige Diskriminierungserfahrungen durch Personen in Gesundheitsberufen erlebt haben. Die Folge ist, dass Konsultationen vermieden werden, Arzt oder Ärztin gewechselt wurden, und Patient:innen mit zu viel persönlicher Neugier, unsensibler Haltung und/oder kaum Wissen zu Lebensumständen, spezifischen, medizinischen Themen, biografischen Herausforderungen und Bedürfnissen begegnet wird.

Zur Situation in der Hospiz und Palliative Care wissen wir dazu sehr wenig, es gibt in Deutschland keine guten Zahlen dazu, aber es sieht erfahrungsgemäß und auch in internationalen Studien nicht so viel besser aus. LGBTIQ+ Menschen fühlen sich oft nicht gesehen und nicht gut aufgehoben. Es geht um immer noch vorhandene Vorurteile, mangelnde Bedürfnisorientierung und um den unzureichenden ganzheitlichen Zugang im Sinne des Total Pain Konzeptes. Es gibt Studien zur Situation in der Altenpflege und da sieht es leider noch wenig nach LGBTIQ+ sensibler Pflege aus. Auch die Akzeptanz von queeren Menschen ist in der diverseren Zusammensetzung der pflegenden und betreuenden Teams noch entwicklungsfähig.

Wie gut Hospiz und Palliative Care Teams vorbereitet sind, LGBTIQ+ Menschen zu betreuen, wissen wir im deutschsprachigen Raum nicht genau. Oft herrscht die Einstellung vor – ‚Was die Menschen im Bett machen, interessiert mich nicht, ich pflege alle gleich.‘ Was zunächst nicht diskriminierend klingt, ist deshalb aber nicht gut. Diese gleichmacherische Haltung kann man ja auch nicht bei Menschen verschiedenen Glaubens, mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit haben, bzw. ohne Schaden anzurichten, umsetzen. Man muss etwas über die Lebens- und Erfahrungswelten der Menschen wissen, um eine Vorstellung von Sensibilitäten und besonderen Bedürfnissen zu haben. Ich kann Bedürfnisse nur erkennen, wenn ich weiß, dass es diese gibt. So kann dann auch eine diversitätssensible Palliative Care gelebt werden.

Wie kann man das erreichen?

Die Frage bei jeder Begegnung muss sein: ‚Where are the tricky parts?‘ (Wo sind die heiklen Stellen?) Das Ziel der Schaffung und Ermöglichung von Diversität in Einrichtungen ist nur zu erreichen, wenn es Wissen und Kenntnisse zu Lebenswelten, Hintergründen, Prioritäten der einzelnen marginalisierten Gesellschaftsgruppen gibt. Dafür muss es Schulungen geben, für alle Teams, die in Altersheimen, Hospizen, Palliativstationen und mobilen Diensten im Einsatz sind.

Man könnte in Einrichtungen ein Gütesiegel einführen, wie das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt®, das von der Schwulenberatung Berlin als bundesweites Qualifizierungsprogramm für stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Dienste, Tagespflegestätten, Hospize und Krankenhäuser entwickelt wurde, die in struktureller, organisationspolitischer und personeller Hinsicht Voraussetzungen für LGBTIQ*-sensible und (post-)migrationssensible Settings schaffen wollen.

60 Kriterien sind zu erfüllen, es gibt Schulungen der Mitarbeiter:innen, Erstellungen von Leitbildern, Zusammenarbeit mit LGBTIQ+ Organisationen, Veranstaltungen und Medien für LGBTIQ+ Menschen vor Ort, Richtlinien für Dokumentation und Anamnese, usw.

Was ist in der Dokumentation und Anamnese von LGBTIQ+ Menschen anders?

Die Dokumentation ist oft sehr binär ausgerichtet. Trans-Personen mit neuem Namen, aber noch dem früheren ‚Deadname‘ (Name einer Trans-Person vor ihrer Transition) in den Papieren, werden falsch angesprochen, ihr Wunsch nach Ansprache mit dem neuen Namen wird nicht berücksichtigt. Es gibt dafür auch keine Formularfelder. Es wird meist gefragt, ob man verheiratet ist und Kinder hat– alles sehr heteronormative und binäre Fragen, statt offene Fragen zu stellen wie z.B. ‚Wer ist Ihnen wichtig?‘, ‚Was ist zu beachten?‘, ‚Wer soll informiert werden?‘‚ ‚Wer darf mitentscheiden und wer nicht?‘. Partner:innen werden oft als Geschwister angesprochen, gegengeschlechtliche Freund:innen für Ehepartner:innen gehalten. Oder auch der HIV-Status. Wie soll er dokumentiert und wie darf er kommuniziert werden? Was ist einer Trans-Person bei der Pflege wichtig? Soll eine Hormontherapie in der letzten Lebensphase fortgeführt werden? Gibt es eine Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht – und was und wer steht darin? Advance Care Planning ist für LGBTIQ+ Menschen besonders wichtig, weil sie oft nicht von Angehörigen ihrer Herkunftsfamilie oder Ehepartner:innen begleitet werden. Wenn hier nicht Vorsorge getroffen wurde, kann es oft am Ende zu unschönen Szenen kommen, wenn Geschwister oder Eltern, zu denen kein Kontakt mehr bestand, am Ende – gegen den Willen der Patient:innen – diejenigen sind, die von der Einrichtung als verwandt und daher entscheidungsbefugt anerkannt werden. Wie geht man mit Bi-sexuellen um, die zwei Partner:innen haben?

Die Identität der LGBTIQ+ Menschen reicht – wie bei allen anderen – über den Tod hinaus, es geht daher auch um die Bestattungsverfügung: Wie will jemand angekleidet werden, geschminkt oder nicht, wo und mit wem möchte man bestattet werden, etc.

Offene Fragen führen zur Einsicht in die Bedürfnisse. ‚Das ist ganz neu für mich und ich möchte, dass es Ihnen bei uns gut geht. Bitte sagen Sie uns, was Ihnen wichtig ist, was Sie brauchen und worauf wir achten müssen.‘

Wäre es in Ihren Augen wünschenswert, wenn es Institutionen nur für LGBTIQ+ Menschen gäbe?

Ich bin da eher unentschieden. Es gab in der Altenpflege solche Versuche in Berlin, Wohnprojekte mit Pflege, Pflegestation und Demenzstation. Die sind ganz gut angelaufen, bis man draufgekommen ist, dass es nicht so passend ist, homosexuelle Männer und lesbische Frauen gemeinsam unterzubringen, weil bei den Frauen zum Teil Erinnerungen an männliche Gewalt getriggert wurden. Auch in der Demenz ist es problematisch, wenn alte Konflikt-Erfahrungen auftauchen. Aber vielleicht wäre es für ein kleines stationäres Hospiz ein geeignetes Modell? Fraglich ist auch, ob es finanzierbar wäre, sich auf eine Personengruppe zu spezialisieren.

Ich bin sehr für das Qualitätssiegel. Es sensibilisiert für das Thema, bereitet die Teams vor. Die Schwulenberatung Berlin setzt sich damit für die gesamte queere Community ein. Im nächsten Schritt geht es ihnen darum, die ethnische und religiöse Diversität aufzugreifen. Muslimische Pflegeheime, jüdische Pflegeheime, usw. Diese Gruppen werden dann am besten versorgt, wenn man sich mit ihnen wirklich auskennt.

Sollte die ‚hospizliche Haltung’ nicht ohnehin so offen und inklusiv sein, dass LGBTIQ+ Menschen sich gut aufgehoben fühlen?

Ja, aber wir sind nicht frei von Geschichte. In Deutschland sind ganz viele Hospize in kirchlicher Trägerschaft. In Köln gibt es z.B. vier stationäre Hospize, alle sind katholisch. Mein Mann ist dort Seelsorger, es weht die Regenbogenfahne etc. Aber in Kenntnis der diskriminierenden Geschichte der Kirche: Wer in der LGBTIQ+ Community geht davon aus, dass man ihm/ihr dort vorurteilsfrei und kenntnisreich begegnen wird?

In Alten- und Pflegeheimen sind oft ja nicht nur Mitarbeiter:innen, sondern auch Mitbewohner:innen das Problem. Sie kommen z.T. aus der Nazizeit, der Adenauerzeit, als LGBTIQ+ Menschen strafrechtlich verfolgt, kriminalisiert, eingesperrt und getötet wurden.

LGBTIQ+ Patient:innen müssen sich auch heute noch immer überlegen, ob sie sich gegenüber Mitbewohner:innen und Mitarbeiter:innen outen oder nicht. Der Genderschnitt in Pflegeheimen ist häufig sehr weiblich, das macht es für schwule Männer oft auch schwierig.

Im Mobilen Dienst ist es meist nicht zu verbergen. Das Outing passiert, sobald die Wohnung betreten wird. Das führt manchmal zur Vermeidung von ambulanten Diensten.

Also reicht die ‚hospizliche Haltung’ nicht aus, was gibt es noch zu tun?

Respekt für alle ist wichtig, aber es gilt sich zu informieren, zu lernen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und die besonderen Lebenslagen anzuerkennen.

Zwischen 1933 und 1945 wurden zwischen 5.000 und 15.000 LGBTIQ+ Menschen in Lagern umgebracht, bis 1969 gab es die weitere Strafverfolgung unter Beibehaltung des von den Nazis verschärften Gesetzes, unter Adenauer (BRD-Bundeskanzler 1949-1963) wurden 30.000 schwule Menschen oft zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Seit 1970 begann für LGBTIQ+ Menschen ein neuer Weg, mit dem Leben umzugehen. Aber es geht auch gegenwärtig noch um geschichtliche Zusammenhänge, die Geschichte von Diskriminierungserfahrung und -angst für die meisten bis heute, von der Jugend bis ins Alter, von der Schule bis ins Arbeitsleben, von der Familie bis in die Gesellschaft, immer die Frage: ‚Wie wird es jetzt wohl hier sein?‘.

Es gab die Kriminalisierung und die Pathologisierung – die WHO hat die Homosexualität erst 1990 aus dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) und der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) herausgenommen, die Transsexualität erst 2018.

Dazu kamen bis vor Kurzem die Rechtsprobleme mit dem Status als Partner:in. Erst seit Anfang 2023 kann ein:e verheiratete:r Partner:in mitbestimmen. Die Ursprungsfamilie hat immer noch mehr Rechte als die Wahlfamilie oder der Freundeskreis, wenn man nicht wasserdicht vorgesorgt hat.

Aber um auch etwas Positives zu bringen: In Deutschland wurde ein 40 Jahre altes Transsexuellen-Gesetz erst vor Kurzem geändert und heißt jetzt Selbstbestimmungsgesetz. Es gibt keine Therapiepflicht, keine psychiatrischen Gutachten mehr. Man kann das Geschlecht auf dem Standesamt und muss es nicht mehr vor Gericht ändern.

Wie wirkt sich der politische Rechtsruck, der weltweit zu beobachten ist, aus?

Die Diskriminierung in der Gesellschaft nimmt wieder spürbar zu. Laut einer Studie outen sich heute nur 30 – 40 % der LGBTIQ+ Menschen am Arbeitsplatz, 60% nicht. Es bestehen immer noch Vorurteile, aber auch Unsicherheiten. Gewalterfahrungen nehmen zu. Der Rechtsruck bedeutet ja, dass immer mehr Menschen sich eine heteronormative, einfache Welt wünschen, die eindeutig und klar ist, statt multi und divers.

Inwieweit ist Wissen zu LGBTIQ+ Menschen bereits in Ausbildungen verankert?

Es gibt die Auf-Schulungen für Teams im Rahmen des Qualitätssiegels. In der generalistischen Pflegeausbildung wurde das Thema 2020 in den bundesweiten Rahmenlehrplan aufgenommen, aber wie er umgesetzt wird, wissen wir nicht. Im Medizinstudium wird es noch nicht systematisch aufgegriffen.

Die AWO (Arbeiterwohlfahrt) hat für ihre Heime Lernmodule ‚Queer im Alter‘ mit einer pflegewissenschaftlichen Institution entwickelt und Empfehlungen erarbeitet.

In den Palliative Care Kursen (160 Stunden) hat das Thema bisher aus Zeitmangel kaum Platz.

Wie kann man das voranbringen?

Seit dem Sommer 2023 gibt es die EAPC-Empfehlungen, unser EAPC Report ‚Providing LGBT+ Inclusive Palliative & End-of-Life Care‘ ist in palliativen Kontexten auf offene Ohren gestoßen, auch in Fachzeitschriften wird das Thema aufgegriffen und kürzlich wurde in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin dazu eine Arbeitsgruppe gegründet. Geplant ist eine enge Zusammenarbeit mit HOSPIZ ÖSTERREICH und der Schweizer Palliativgesellschaft. Jetzt müssen wir den Fahrtwind nutzen.

Welchen Anteil der Bevölkerung betrifft das Thema?

Laut Schätzungen sind 7 – 11 % aller Menschen homosexuell. Transsexuell sind ca. 0,3 %, wie viele Intersexuelle und Bisexuelle es gibt ist – aus verschiedenen Gründen – schwer zu erfassen. Angeblich kommt jeder 60. Mensch aus dem Inter-Spektrum, aber nicht alle definieren sich als queer, die Gruppe ist auch in sich sehr divers.

In den jüngeren Generationen gibt es in den Umfragen sehr viel mehr LGBTIQ+ Menschen, man spricht von 20 % in der Generation von zwischen 15 Jahren und Anfang 20.

Was ist das Ziel?

Das Thema soll in die Rahmencurricula der Pflegeausbildung in den deutschen Bundesländern aufgenommen werden, ebenso in das Curriculum des Medizinstudiums und in die Fortbildungen im palliativen Bereich, zumindest in die Inhouse-Schulungen einzelner Institutionen.

Medizinische Leitlinien zu Trans-Identität sind parallel in Überarbeitung, darin wird es ein eigenes Kapitel mit Empfehlungen geben, wie Trans-Gesundheit evidenzbasiert unterstützt werden kann, für Hausärzt:innen, Pflege, Therapieberufe und in der Palliative Care. Wenn es eine Leitlinie gibt, hat das eine Auswirkung. Dann kann man sich in Schulungen darauf beziehen.

Meine größte Sorge gilt den 15.000 Pflegeheimen in Deutschland, wo die ganze Community aus der loud & proud Generation in 10 – 20 Jahren aufschlagen wird. Wie wird es der LGBTIQ+ Community gehen, wenn sie dort auf erschwerte Bedingungen wie Pflegemangel, multikulturelle Teams, sinkende Fachkräftequote usw. trifft? Wie werden wir mit unserem ‚Orchideenthema‘ dort landen, wenn schon die Basics nicht funktionieren? Pinkwashing1 und Queer Baiting2 gibt es da und dort bereits, aber wenn das Konzeptionelle nicht erfüllt ist, dann hilft es keinem. Wir haben allerdings noch zehn bis zwanzig Jahre, um das vorzubereiten – und die müssen wir nutzen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. phil. Axel Doll, Dipl. Pflegepädagoge, Gesundheits- und Fachkrankenpfleger für Onkologie, Palliative Care, Pain Nurse Plus, Lehrkoordinator für „Palliativmedizin“ am Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Köln, Kursleiter für Palliative Care

Das Gespräch führte Catrin Neumüller, Leitung Öffentlichkeitsarbeit, HOSPIZ ÖSTERREICH

Bild: pixabay
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Pinkwashing
2 Queerbaiting in seinem gegenwärtigen Gebrauch beschreibt Handlungen, Bemerkungen oder ein beiläufiges Verhalten von berühmten Personen, die vorgeben, selbst Teil der LGBTIQ+ Community zu sein – und damit – oft aus rein gewinnorientierten Gründen – ein LGBTQ-Publikum umwerben, obwohl sie selbst eigentlich heterosexuell sind.
Lesetipp:
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