Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Tod und Tabu – Sterben transkulturell

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Cicely Saunders entwickelte in den 50er, 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts von England aus die Hospizbewegung. Etwa zeitgleich begründete die Amerikanerin Madeleine Leininger die Transkulturelle Pflege. Beiden Frauen fiel ein großes Defizit in der medizinischen Versorgung auf: Saunders erzählte von der Unterversorgung von schwerkranken Menschen mit Schmerzmittel und der Ausgrenzung von Sterbenden. Leininger hingegen sah die kulturspezifischen Bedürfnisse von Kindern und deren Familien aus unterschiedlichen Nationen nicht ausreichend beachtet.

In beiden Fällen spielt die Kultur einer Gesellschaft eine tragende Rolle, wenngleich man heute nicht mehr in nationalen, homogenen Kategorien denkt, sondern Kultur als ein dynamisches, heterogenes Konzept versteht. Jeder Mensch hat seine spezifische Lebensgeschichte im Gepäck, entscheidend ist, in der aktuellen Situation ihre individuellen, familienbezogenen Bedürfnisse zu erfassen und zu berücksichtigen. Dafür wurden sogenannte „Transkulturelle Anamnesen“ entwickelt; ohne diese ist die Betreuung eher ein Blindflug in die Werte- und Normenwelt von Menschen aus anderen Kulturkreisen, gesäumt mit vielen Fettnäpfchen.

Es dürfte einsichtig sein, dass Patient*innen verordnete Schmerzmedikamente weglassen, wenn die Kultur es vorsieht, den Übergang zum Tod bei klarem Bewusstsein zu erleben. Wenngleich die Begründung bei Muslim*innen und Buddhist*innen dafür anders lautet. Nach islamischer Jenseitsvorstellung erwartet ein Todesengel die Seele und sie muss ein paar Fragen beantworten können, um bei der Auferstehung dabei zu sein. Bei Buddhist*innen ist klares Bewusstsein förderlich, damit der Prozess der Wiedergeburt reibungslos verläuft. Die Erklärung eines 90ig jährigen Österreichers, der trotz Schmerzen die angeordneten Morphine ausschlägt, ist nicht unbedingt religiös, sondern von seiner Lebenserfahrung gespeist: „Was glauben Sie, was ich im Krieg für Schmerzen aushalten habe müssen, dann werde ich diese auch aushalten.“ Einfühlung, Information und Aufklärung werden hier bedeutsam.

Tatsächlich sind doch alle Lebensbereiche von Kulturstandards durchdrungen: die Art und Weise, wie man sich begrüßt, Essgewohnheiten, Nahrungsmittel, Kleidungsformen, Erziehungsregeln, religiöse Rituale, Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Schmerzausdruck, Umgang mit Sterben und Tod, Jenseitsvorstellungen sowie Begräbnis- und Trauerrituale.

Schon mit der Begrüßung kann´s beginnen: In meinen Seminaren erzählen Teilnehmer*innen immer wieder, dass insbesondere muslimische Männer den Krankenpfleger*innen bei der Begrüßung nicht in die Augen schauen und nicht die Hand geben. Dies wird als respektlos und frauenfeindlich empfunden. Aus einer Vielzahl kultureller Perspektiven bestehen gegenüber „Fremden“ und v.a. gegenüber dem anderen Geschlecht ein Blick- und ein Berührungsverbot. Es schützt gleichsam beide Seiten, v.a. die Sittsamkeit und Ehre der Familie.

Rasch tappen wir in die Kulturfalle! Kulturfalle bedeutet, den eigenen gewachsenen Welt- und Menschenbildern auf den Leim zu gehen, bzw. diese Vorstellungen als die einzig richtigen und angemessenen zu erachten: Egozentrismus und Vor-Urteile sollten nicht unreflektiert bleiben.

Ein Beispiel dazu: Herr S., aus Serbien, hat einen Gehirntumor. Er ist bei der Entlassung aus dem Krankenhaus bettlägerig und ohne Dauerkatheter, obwohl er extrem viel Harn ausscheidet. Der Pflegeaufwand ist intensiv. Laut Pflegebericht aus dem Spital übernimmt seine Großfamilie die Pflege. Herr S. ist verheiratet, hat einen Sohn Mitte zwanzig, dieser ist frisch vermählt. Die Mutter ist Hausfrau, der Sohn arbeitet als Schichtarbeiter, die Schwiegertochter ist arbeitslos.

Eine Kollegin schildert: Herr S. liegt in einem Krankenbett, das Zimmer riecht nach Urin, das Leintuch und die Einlagen sind triefend nass. Die Schwiegertochter und die Ehefrau sind vor Ort. Warum wurde dennoch die Körperpflege so vernachlässigt und ist der Wäschewechsel unterblieben? Auf Nachfrage sagt die Ehefrau, dass zwar die Pflege eine Angelegenheit der Familie sei, aber nicht jeder darf alles tun. So zum Beispiel macht der Sohn bei seinem Vater die Intimpflege nicht, das gleiche gilt für die Schwiegertochter. Fr. S. wirkt sehr erschöpft, alles ist ihr zu viel. Der Mutter von Herrn S. wäre es gestattet, an der Pflege mitzuhelfen, sie aber lebt in Serbien. Dies zeigt auch gut auf, wie eine Migrationsbewegung Familienstruktur verändert. Herr S. starb nach kurzer Zeit und externe Pflegedienste kamen nicht mehr zum Einsatz.

Interkulturelle Kompetenz bedeutet, neben Reflexions- und Empathiefähigkeit eben auch ein kulturelles Wissen und Gespür zu haben, um z.B. solche Zuständigkeitsfragen für pflegerische und medizinische Fragen zu klären. In patriarchalen Systemen ist es nämlich oftmals die männliche Linie, welche die Außenvertretung der Familie übernimmt. So stellen sich oft muslimische Männer vor ihre Frau und sprechen für sie, auch wenn sie die Patientin ist. In vielen Kulturen ist es z.B. auch angebracht, dem Patienten*der Patientin die Diagnose vorzuenthalten. Patient*innen sind daher oft über ihre Erkrankung nicht aufgeklärt: Die betroffene Person soll nicht belastet, sondern geschützt werden. Eine völlig andere Sichtweise von Selbstbestimmung und Autonomie als in unserer westlichen Welt.

Ein Praxisbeispiel: Auf dem Weg zu Herrn A., einem türkischstämmigen Patienten, ruft mich sein Sohn an und bittet mich eindringlich mit seinem Vater ja nicht über die Schwere seiner Erkrankung und über Sterben und Tod zu reden. Eigentlich das Gegenteil zu meiner Aufgabe als Palliativpfleger. Auf mein Nachfragen nach dem Besuch meinte er, man dürfe „die Moral“ seines Vaters nicht schwächen. In der Türkei bedeutet eine „kaputte Moral“ Traurigkeit und Depression und sie wird durch Konflikt, Stress und Hoffnungslosigkeit verursacht. Interessant ist, dass Herr A. beim nächsten Besuch, auf die Frage wie es ihm gehe, auf ein Bild mit einer abgeblühten Sonnenblume zeigte. Es musste nicht mehr viel gesagt werden. Vom Sohn erfuhr ich noch, dass das Begräbnis in der Türkei stattfinden wird und er schon alles vorbereitet.

Auch Patientenverfügungen kommen aufgrund von Tabus oftmals nicht zustande, wie eine Kollegin darstellt: Frau J., aus der Türkei, ist an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt. Die Übersetzung hat ihr Sohn übernommen. In unserer Arbeit mit Migrant*innen ist die Frage der Sprachkompetenz und der Übersetzung von so schwierigen und intimen Themen meistens zentral. Die Patientenverfügung ist nicht zustande gekommen, trotz mehrmaligen Nachfragens. Frau J. ist zu Hause verstorben und für den Sohn war es gut so.

Solche Gesprächstabus können alle Körperfunktionen, sexuelle Themen, Schwangerschaft und Regelblutung sowie familiäre Probleme betreffen. Tabus können Machtverhältnisse verstärken und Fehlentwicklungen fördern. Wir reden gerne über Enttabuisierung und „Tabus gehören gebrochen“. Tabus haben aber auch eine Schutzfunktion, sie strukturieren das soziale Verhalten einer Gruppe, und dies kann Ordnung und Sicherheit bedeuten. Tabus zeigen, was höflich oder unhöflich ist, was sich gehört, und was nicht.

Im Mobilen Hospiz der Caritas (Hospizteams und Mobiles Palliativteam) gibt es für derart spannungsgeladene Begleitungen mehrere Möglichkeiten des Umganges: in diesem Beispiel gab es eine „Fallbesprechung“ im Rahmen einer Teambesprechung. Im kleineren Rahmen bietet sich auch die Supervision an. Auf der persönlichen Ebene wird die Selbstfürsorge hochgehalten. Ich persönlich erinnere mich gerne an meinen Atem und an die Voraussetzungen für eine gute Kommunikation:
1. Anerkennung der Werte des anderen.
2. Anerkennung der Person des anderen.
3. Anerkennung der Leistung des anderen.
4. Achtung der Bedürfnisse des anderen.
Darüber und über andere Normen und Sitten Bescheid zu wissen, erleichtert die Betreuung und hilft mir zu verstehen, die anderen und mich selbst. Was ich jedenfalls gelernt habe: die Welt so wie ich sie sehe, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Das erlaubt auch eine gewisse Ge-lassen-heit.

Mag. Franz Plasser, DGKP beim Mobilen Palliativteam der Caritas der Erzdiözese Wien, leitet Seminare zu Transkultureller Pflege

Bild © Karolina Grabowska