„Wenn ich das gewusst hätte, dann…“. So beginnen die meisten Einsichten und nicht selten endet solch ein Satz mit „…dann hätte ich anders agiert“ oder „…dann hätte ich mich besser vorbereitet“. Dennoch gibt es oft viele Ungewissheiten, die „ziemlich sichere Prognosen“ in der Realität wie eine Wundertüte erscheinen lassen.
Dank der demografischen Forschung ist der Bedarf jener Personen, die von der Hospiz- und Palliativversorgung profitieren werden, kein Überraschungspaket, sondern recht klar beschrieben. Genau deswegen ist es sinnvoll und wichtig, sich jetzt mit den Prognosen zu beschäftigen, damit nicht auch wir „Wenn wir das gewusst hätten…“, sagen müssen, wenn die Zukunft zum Jetzt geworden sein wird.
Was kommt auf uns zu?
Eine Forschergruppe rund um Simon Etkind vom Cicely Saunders Institute in London hat hochgerechnet, wie viele Menschen in England und Wales im Jahr 2040 Hospiz- und Palliativbedarf haben werden (die relevanten Anmerkungen an dieser Stelle: Das sind knapp 17 Jahre ab heute und diese Studie wurde vor der Pandemie durchgeführt). Diese Forscher:innen bestätigen, dass diese Entwicklungen in Ländern mit ähnlicher demografischer Entwicklung vergleichbar sind. Jedenfalls sollen uns diese Erkenntnisse für einen Moment innehalten lassen:
Durch die demografische Entwicklung (Stichwort: die Generation der Babyboomer wird älter und stirbt) werden 2040 knapp über 25 % mehr Menschen pro Jahr sterben. Legt man diese Berechnungen auf Österreich um, so bedeutet dies, dass statt ca. 90.000 Menschen ca. 112.000 Menschen pro Jahr sterben.
Die Forschergruppe beschreibt, dass nicht davon auszugehen ist, dass der Bedarf an Hospiz- und Palliativversorgung gleichermaßen um 25 % steigen wird – sondern deutlich höher sein wird. Etkind und Kolleg:innen berechnen, dass ca. 42 % mehr Menschen als heute Hospiz- und Palliativversorgung brauchen werden.
Zudem werden Erkrankungen in Zukunft komplexer. Durch die Errungenschaften der Medizin überleben Menschen viele Erkrankungen, an denen sie vor einigen Jahren noch gestorben wären. Zumindest überleben sie diese länger – und Erkrankungen chronifizieren. Diese komplexen und chronischen Krankheitsverläufe werden auch in vielen Settings, in denen Hospiz und Palliative Care gelebt wird, Einzug halten.
Haupt- oder Zusatzdiagnose Demenz. Gerade die signifikante Zunahme von Menschen mit Demenzerkrankungen, aber auch von onkologischen Erkrankungen werden der Hauptmotor für den Bedarfsanstieg sein. Auch Erkrankungen der Atemwege werden eine deutlich größere Rolle spielen als bisher (Sleeman et al., 2019; Etkind et al., 2017).
Die Altersstruktur der Patient:innen in der Hospiz- und Palliativversorgung unterliegt nach diesen Prognosen einer Veränderung. Während die Anzahl der unter 65-jährigen Patient:innen tendenziell rückläufig sein wird, die der 65-74-Jährigen gleich bleiben wird, wird der signifikante Bedarfsanstieg bei den über 75jähren sein. Wenn diese Entwicklung noch detaillierter betrachtet wird, werden es vor allem die über 85-jährigen Menschen sein, die den hauptsächlichen palliativen Bedarf haben werden.
Neben all diesen krankheitsbezogenen Veränderungen und Entwicklungen dürfen auch gesellschaftliche und berufsspezifische Themen nicht außer Acht gelassen werden. Sterben wird zunehmend ein psychosoziales Thema sein. Die Rolle der pflegenden Angehörigen wird wichtig sein, allerdings zeigt die demografische Entwicklung, dass es im Verhältnis zu den Pflegebedürftigen auch immer weniger informelle Pflegende geben wird, weil immer mehr Menschen am Lebensende keine Angehörigen haben. Auch der oft beschriebene Mangel an Pflegepersonen und Mediziner:innen wird in der Hospiz- und Palliativversorgung wirksam werden.
Die WHO hat im Jahr 2021 (WHO, 2021) in einem Report beschrieben, dass es aufgrund des steigenden Bedarfs wichtig ist, weitere Berufsgruppen jenseits der klassischen Berufe wie Gesundheits- und Krankenpflege und Medizin, als Schlüsselkräfte für eine stabile und zukunftsträchtige Begleitung und Befähigung der Menschen am Lebensende zu betrachten. Deswegen sollen, ganz im Sinne des Total-Pain-Modells, die Kompetenzen von Sozialarbeiter:innen, anderen psychosozialen Berufsgruppen und auch die von therapeutischen Berufsgruppen sowie von Seelsorger:innen genutzt werden. Sie sind integrale Bestandteile der Teams – für Patient:innen, deren An- und Zugehörige und als Entlastung der jeweils anderen Berufsgruppen. Breit aufgestellte Teams und gelebte Multiprofessionalität werden bedeutsame Faktoren für den Umgang mit diesen Herausforderungen sein.
Bildung und Befähigung.
Bildung ist Befähigung. Neben dem weiteren Ausbau der spezialisierten Hospiz- und Palliativversorgung wird Haltung, Wissen und Handlungskompetenz zu Hospiz- und Palliativversorgung in allen Einrichtungen, wo Sterben und Lebensende Themen sind, essenziell sein. Neben fachlich fundierter Weiterbildung wird Basiswissen zu Hospiz und Palliative Care daher auch in allen Ausbildungen und grundständigen Studiengängen all jener Berufsgruppen verankert werden müssen, die schwer erkrankte und sterbende Menschen begleiten werden.
Wissen und Befähigung zu Lebensqualität am Lebensende brauchen aber auch die Menschen, die nicht beruflich, sondern im Ehrenamt oder auch als An- und Zugehörige schwer erkrankte und sterbende Menschen begleiten. Und selbst schwer erkrankte Menschen möchten befähigt werden, gut für sich selbst sorgen zu können. In diesem Zusammenhang die Erinnerung an das, was Heather Richardson, damalige CEO des St. Christopher‘s Hospice im Jahr 2022 bei der Fachtagung von HOSPIZ ÖSTERREICH betont hat: Dass es eine ganz wichtige Aufgabe von Hospiz- und Palliativeinrichtungen ist, Ressourcen in die Befähigung der Patient:innen, der An- und Zugehörigen und der regionalen Bevölkerung zu investieren, damit genug Ressourcen für jene bleiben, die tatsächlich Versorgung brauchen. Dies unterstützt auch die Weltgesundheitsorganisation, die beschreibt, dass ein relevantes Thema der Zukunft die Rolle der (Wieder)Befähigung von Patient:innen und Angehörigen sein wird, damit diese so lang wie möglich selbstständig, autonom und selbstbefähigt bleiben (WHO, 2023).
Jedes Problem beinhaltet auch eine Ressource.
Wie auch eine Münze zwei Seiten hat, so bietet bei genauerer Betrachtung jede Herausforderung auch eine Ressource. Jede:r von Ihnen, jede:r von uns kann einiges dazu beitragen, wie wir diese Herausforderung konstruktiv nutzen und die Hospiz- und Palliativversorgung in allen Settings weiterentwickeln können. Hospiz ist eine Bewegung. Nach dem notwendigen Innehalten wird gerade das Bewegtsein und Weiterbewegen dabei helfen, auch zukünftig alle Menschen dabei zu unterstützen, eine gute Lebensqualität am Lebensende zu haben.
Rainer Simader ist Mitglied des Leitungsteams des Universitätslehrgangs Palliative Care und leitet bei HOSPIZ ÖSTERREICH, dem Dachverband der österreichischen Hospiz- und Palliativeinrichtungen, das Bildungswesen.
Literatur:
Etkind SN, Bone AE, Gomes B et al. How many people will need palliative care in 2040? Past trends, future projections and implications for services. BMC Med 15, 102 (2017). https://doi.org/10.1186/s12916-017-0860-2
Sleeman KE, de Brito M, Etkind S et al. The escalating global burden of serious health-related suffering: projections to 2060 by world regions, age groups, and health conditions. Lancet Glob Health. 2019 Jul;7(7):e883-e892. doi: 10.1016/S2214-109
WHO (2021). WHO regional technical briefing: strengthening palliative care in the WHO European Region. Meeting report: virtual meeting hosted by the WHO Regional Office for Europe, 29 November 2021. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe
WHO (2023). Policy brief on integrating rehabilitation into palliative care services. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe
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