Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Sexualität und Palliative Care

veröffentlicht am

Sexualität und Tod. Zwei Tabuthemen in einem Satz oder vielmehr zwei selbstverständliche Themen gelassen ausgesprochen? Auch jede chronische Erkrankung stellt ein Risiko für Sexualität dar, was bedeuten kann, dass in Partnerschaften im Rahmen von schweren Erkrankungen auch ein Teil der Beziehung zueinander „sterben“ kann.

Herr G. ist ein attraktiver Mann Ende 40. Seit der Diagnose eines HNO-Tumors, der in Folge einen Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) erforderlich machte, hat er zunehmend Schamgefühle seiner Frau gegenüber, wobei er angibt, dass Intimität und Sexualität immer ein elementarer Teil der Beziehung gewesen sei. Die körperliche Beziehung zueinander sei stets ein selbstverständlicher Teil des Lebens der beiden gewesen.

Die Erkrankung wirkte sich erheblich darauf aus. Die Ehefrau gibt in einem Einzelgespräch offen zu, dass ihr Interesse an Sexualität nachgelassen habe, da sie – auch aufgrund des Tracheostomas – nicht ausblenden könne, ihren Mann als Patienten wahrzunehmen. Miteinander darüber sprechen die beiden nicht.

Sprachlosigkeit ist eine große Gefahr in Bezug auf Sexualität! Pythagoras (570-510 v. Chr.) formulierte den Satz „Sei still oder lass deine Worte mehr wert sein als Stille“. Vielen Menschen, aber auch vielen medizinischen Profis fällt es offenbar schwer, etwas „Besseres“ zu tun als zu schweigen. Wobei doch gelten sollte: Miteinander reden! Miteinander reden! Miteinander reden! Es fällt erfahrungsgemäß leichter, über Liebe, Vertrauen und Werte zu sprechen als etwa über Berührung, Erotik, Körperkontakt oder sexuelle Bedürfnisse.

Sexualität gehört zu den elementarsten Grundbedürfnissen und ist ein Grundrecht. Patient*innen und deren Partner*innen wünschen nachweislich das Gespräch mit Professionellen über Sexualität [1]. Es gibt Studien zum Thema Sexualität und Palliative Care. Von 65 Patient*innen mit fortgeschrittener Krebserkrankung gaben 52% an, keinen Geschlechtsverkehr zu haben, 11% gaben an, Geschlechtsverkehr zu haben [2].

Geschlechtsverkehr muss jedoch nicht automatisch bedeuten, dass man sich nahe ist. Sexualität ist subjektiv, multidimensional und vielschichtig (siehe Grafik). Von 63 Patient*innen mit fortgeschrittener Krebserkrankung bewerteten 68% der Männer und 57% der Frauen Sexualität als einen wichtigen Faktor in Bezug auf Lebensqualität [3]. Eine Studie zeigte, dass 86% von 65 Patient*innen auf der Palliativstation es  wichtig fanden, über Sexualität sprechen zu können [2]. „Palliare“ bedeutet ummanteln. Daraus sollte man jedoch nicht folgern, einen Mantel des Schweigens um das Thema Sexualität zu breiten. In der Palliative Care ist bei körperlichen Einschränkungen und schweren Erkrankungen häufig eine adaptive Sexualität das Ziel, die angepasst an die individuelle Situation möglich ist. Als Kommunikationshilfe kann die Eselsbrücke FITAIMIN („Vitamin“) nach Viktor Frankl dienen.

FI ngerspitzengefühl
TA ktgefühl
IM provisationsgabe
IN dividualisierungsvermögen

Ein möglicher Weg für ein Gesprächsangebot ist: Eine Patientin/ein Patient mit einem ähnlichen Krankheitsbild hat mich zum Thema Sexualität und Partnerschaft angesprochen. Wie sind Ihre Erfahrungen?“. Ein weiterer Ansatz wäre, zu sagen: „Ich habe Sie viele Dinge gefragt, weil es mir/uns wichtig ist, Sie bestmöglich betreuen zu können. Ich möchte, dass Sie wissen, dass auch das Thema Sexualität dazugehört. Da geht es z.B. um „Frau-Sein“, „Mann-Sein“, Partnerschaft, Körperbild, Nähe, Zärtlichkeit, sexuelle Funktionen. Wir müssen nicht jetzt darüber reden, wir haben uns ja erst kennengelernt. Es ist mir einfach wichtig, dass Sie wissen, dass auch das ein Thema sein kann.“

Bei Paaren kann es hilfreich sein, zu fragen, was in der Partnerschaft getan wird,  um sich im täglichen Leben nahe zu fühlen. Ob die Erkrankung die Einstellung zueinander verändert hat? Ob die Erkrankung selbst oder die Behandlung es eventuell schwierig macht, in der Partnerschaft intim zu sein? Ob der Wunsch nach einem Gespräch darüber besteht?

Ein gemeinsames, offenes Gespräch mit Herrn G. und seiner Ehefrau führte dazu, dass die beiden wieder offener über ihre Bedürfnisse miteinander und nicht mit anderen sprechen konnten.

Auch das Alter ist kein Ausschlussgrund, um über Sexualität zu sprechen. Sexualität geht nicht in Pension! Eine Studie zeigte, dass 86 % von 101 im Durchschnitt 81 Jahre alten Patient*innen zufrieden waren, über Sexualität befragt zu werden[4].

Rechnen Sie in Bezug auf das Thema mit Emotionen! Verlieren Sie nicht ihre eigene Zärtlichkeit! Bedenken Sie, dass Ihr eigener Umgang mit Sexualität prägend dafür ist, wie Sie wiederum ihr Umfeld prägen und mit der Thematik umgehen. Und ebenso dafür, ob sich die Menschen Ihnen gegenüber öffnen.

Ein Krankenzimmer kann die letzten zwei Quadratmeter der Kontrolle bedeuten und es ist unwahrscheinlich, dass dort “heiße Nächte” stattfinden. Das ist auch nicht die Erwartungshaltung der Patient*innen. Häufig besteht jedoch das Bedürfnis nach Privatsphäre und Intimität. Das kann in einer Institution bedeuten, dass die Bettgitter entfernt und zwei Betten zusammengestellt werden. Es kann weiters im Alltag dazu führen, dass ein „Bitte nicht stören“-Schild den Patient*innen ermöglicht, in Ruhe mit der Partnerin/dem Partner zu sein. Das Krankenhauspersonal betritt in diesem Fall nur dann das Zimmer, wenn die Patient*innen läuten und das wünschen.

Um es mit Immanuel Kant (1724-1804) adaptiert zu sagen: Der Mensch hat gegen die Widrigkeiten des Lebens drei Dinge zum Schutz: die HOFFNUNG – den (BEI)SCHLAF – das LACHEN.

Menschen sind sexuelle Wesen! Völlig unabhängig davon, ob sie die Diagnose einer schweren Erkrankung erhalten haben oder nicht. Sexualität ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstwertgefühls einer Person und kann eine intime Kommunikationsform sein, die dazu beiträgt, Leiden zu lindern und die Bedrohung angesichts einer Krankheit zu verringern.

Quelle: www.impulsi.ch

Assoc. Prof.in Priv. Doz.in Dr.in med. et scient. med. Eva Katharina Masel, MSc, Fachärztin für Innere Medizin, Spezialisierung in Palliativmedizin, Stellvertretende Leiterin der klinischen Abteilung für Palliativmedizin am Allgemeinen Krankenhaus Wien, Medizinische Universität Wien, Vorstandsmitglied der Österreichischen Palliativgesellschaft.

[1] Hordern AJ, Currow DC (2003) A patient-centred approach to sexuality in the face of life-limiting illness. Med J Aust 179:S8-11
[2] Vitrano V, Catania V, Mercadante S (2011) Sexuality in patients with advanced cancer: a prospective study in a population admitted to an acute pain relief and palliative care unit. Am J Hosp Palliat Care 28:198–202. https://doi.org/10.1177/1049909110386044
[3] Rouanne M, Massard C, Hollebecque A, et al (2013) Evaluation of sexuality, health-related quality-of-life and depression in advanced cancer patients: a prospective study in a Phase I clinical trial unit of predominantly targeted anticancer drugs. Eur J Cancer 49:431–438. https://doi.org/10.1016/j.ejca.2012.08.008
[4]Farrell J, Belza B (2012) Are older patients comfortable discussing sexual health with nurses? Nurs Res 61:51–57. https://doi.org/10.1097/NNR.0b013e31823a8600
Foto ©: rondeboom – https://www.flickr.com/