Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

LIVING AND DYING WITH PRIDE!

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Ich sitze gemeinsam mit Dr. Andrew Goodhead bei einem Kaffee. Andrew (Pronomen he/him) ist Priester und leitet seit vielen Jahren die Seelsorge in einem der bekanntesten Hospize der Welt, dem St. Christopher’s Hospice London. Er erzählt mir, dass er gemeinsam mit Mitarbeiter:innen verschiedener Londoner Hospize regelmäßig bei der London Pride, einer der größten Pride-Veranstaltungen der Welt, mitmarschiert (ähnliche Veranstaltungen heißen in anderen Städten z.B. ‚Regenbogenparade‘ oder ‚Christopher Street Day‘).

Wie erlebst Du diese Veranstaltungen?

„Lebendig – und deswegen sind wir als Hospize gut beraten, da mitzumarschieren und uns zu zeigen. Als wir letztes Mal als Gruppe viele Kilometer durch die Londoner Innenstadt marschiert sind, wurden ich und meine Kolleg:innen immer wieder angesprochen: ‚Meine Mutter ist bei Ihnen gestorben. Danke für Ihre Arbeit!‘. ‚Mein Freund wurde von Ihnen begleitet. Es war ein würdevoller Abschied.‘ Die Resonanz war überwältigend.“

Diese Lebendigkeit und Demonstration von Diversität ist ein wunderbares Bild der Möglichkeiten. Ist die Hospiz- und Palliativbewegung aber so divers und zugänglich, gerade wenn es um Mitglieder der LGBTIQA+ Community geht?

„Das kann ich natürlich nicht pauschal beantworten. Inklusiv zu sein bedeutet auf unserer Seite zum einen, diese Menschen zu erreichen, ihnen zu zeigen, dass wir auch an ihre speziellen Bedürfnisse denken. Das müssen wir aktiv zeigen. Zum anderen bedeutet es auch, dass wir viel mehr wissen müssen, welche speziellen Bedürfnisse es gibt.“

Was spezielle Bedürfnisse und Ängste betrifft, so hat bereits ein Gesprächspartner dieses Blogs, Max Appenroth (Blog ‚Ins Zimmer für Männer oder Frauen‘, 25. Februar 2021), klar beschrieben, dass Einrichtungen, die auf eine cis-geschlechtliche und heteronormative Gesellschaft ausgerichtet sind und sich auch so präsentieren von trans Personen häufig gemieden werden – weil sie dort oft tatsächlich medizinisch falsch behandelt und diskriminiert werden.

„Wir brauchen hier Fortbildungen, auch medizinisches Wissen und andere Fachexpertisen in unseren Organisationen, – vor allem aber in Kommunikation. Wie sollen wir fragen, wenn es eine:n gleichgeschlechtliche:n Lebenspartner:in gibt oder geben könnte? Nicht selten finden in der älteren Bevölkerung Outing-Prozesse am Lebensende statt. Wie gehen wir damit um? Wie fragen wir nach individuellen (sexuellen) Bedürfnissen? Wie können wir in den Einrichtungen überhaupt erkennen, wen wir unwillentlich diskriminieren? Diese Liste könnte man beliebig fortsetzen. Und wir müssen bedenken, dass die Menschen, die wir zukünftig begleiten werden, generell viel diverser sein werden als heute. Wir sind mitten in einem Prozess und werden auf vielfältigen Ebenen dazulernen müssen: Beispielsweise rund um die Themen Gerontologie, Frailty, Multikulturalität wie auch zum Thema Diversität und sexuelle Orientierung, – in allen Einrichtungen, in denen das Lebensende Thema ist.“

Gehen wir noch mal zurück zum Thema Expertise und Inklusion. Wir, Hospiz und Palliative Care Fachleute, kennen uns in der Regel gut mit dem Lebensende aus, sind aber nicht Expert:innen für LGBTIQA+ Themen. Was gilt es da zu bedenken?

„Netzwerken, netzwerken, netzwerken! Es gibt Organisationen und Expert:innen, die sich genau mit diesen Themen sehr gut auskennen. In den Netzwerkpartnerschaften lernen diese Menschen mehr über das Lebensende und werden wichtige Multiplikator:innen für unsere Themen in der LGBTIQA+ Community. Wir lernen von diesen Menschen im Gegenzug, wie wir unsere Einrichtungen für die queere Community weiterentwickeln können. Deswegen haben wir in London das LGBTIQA+ Netzwerk der Hospize gegründet, um nicht nur auf der Pride Zeichen zu setzen, sondern strategisch das Thema zum Thema zu machen.“

Viele schwerkranke und sterbende Menschen mit LGBTIQA+ Identität und mitunter auch ihre Lebenspartner:innen haben Diskriminierung erlebt, sind in Zeiten aufgewachsen, in der Homosexualität unter Strafe stand, haben einen schmerzhaften oder keinen Outing-Prozess gehabt und vielfältige Verluste erlebt. Oft gibt es keinen Kontakt zur Herkunftsfamilie, stattdessen spielen selbstgewählte Wahlfamilien eine wichtige Rolle. Auch die Einsamkeit unter LGBTIQA+ Personen ist ein großes Thema. Wäre es sinnvoll eigene Hospize oder Alten- und Pflegeeinrichtungen für Menschen, die sich der LGBTIQA+ Community zugehörig fühlen, zu eröffnen?

„Durchaus. Viele dieser Personen sind doppelt vulnerabel. Zum einen wegen ihres Sterbeprozesses und aufgrund ihrer Geschichte. In London gibt es bereits Modellprojekte. Allerdings ist es aufwendig, viele Einrichtungen sind kommerziell geführt und das geht oft auf Kosten der Berücksichtigung von Individualität. Durch gelebte Offenheit, durch Bildungsinitiativen, durch unsere Bildsprache, durch das bewusste Ansprechen dieser Zielgruppe und andere Maßnahmen können wir es schaffen, dass unsere Einrichtungen für diese Menschen sichere Orte sind und werden.“

Dame Cicely Saunders, die Gründerin des Hospizes, in dem Du arbeitest, hat den weithin bekannten Satz geprägt: Du bist wichtig, weil Du DU bist (You matter because you are YOU.). Waren Individualität und Einzigartigkeit also von Beginn an zentral?

„Auch Cicely Saunders hat hier viel gelernt. Ganz besonders durch einen Mann, den sie 1947 kennenlernte: den 40-jährigen Patienten David Tasma. Ein polnisch-jüdischer Mann, der das Warschauer Ghetto überlebt und kaum soziale Kontakte hatte, der so gar nicht in die Norm der bis dahin dominierenden Zielgruppe passte. Hier lernte sie deutlich, wie wichtig individuelle Begleitungen sind. Auch als Organisationen lernen wir besonders viel von jenen, die ‚nicht der Norm entsprechen‘.“

Andrew, in Deiner Arbeit begegnest Du als Seelsorger vielen Menschen, zugleich repräsentierst Du die Organisation in einer leitenden Rolle. Wenn Du das Thema LGBTIQA+ in Deiner Arbeit betrachtest, an welche Begegnungen denkst Du besonders gern zurück?

„Als Priester und Seelsorger bin ich oft bei sehr existenziellen Ereignissen dabei. In letzter Zeit durfte ich zweimal gleichgeschlechtliche Lebenspartner:innen in unserem Hospiz trauen – und kurz darauf auch das Begräbnis der jeweils verstorbenen Partner:innen leiten. Bei beiden hatte ich das Gefühl, dass es ihnen selbst am Lebensende nicht leichtfiel, den Wunsch nach einer Trauung auszusprechen, – vielleicht aufgrund der Angst, sich dabei outen zu müssen. Ich dachte mir, dass ich dann wohl besser als Vorbild dienen sollte, und habe mich ihnen gegenüber geoutet. Das hat viel emotionale Sicherheit vermittelt und wir konnten uns als Menschen begegnen. Generell bin ich zutiefst davon überzeugt, dass eine diverse, bunte, multiprofessionelle und vielfältige Personalstruktur in unseren Einrichtungen auf allen Ebenen der Hierarchien eine sehr wichtige Basis für die Weiterentwicklung unserer Angebote ist.“

Andrew, ich danke Dir herzlich für das Gespräch!

Das Gespräch führte Rainer Simader (Pronomen he/him), Leiter des Bildungswesens HOSPIZ ÖSTERREICH, Vorstandsmitglied der Österreichischen Palliativgesellschaft.

Foto © Andrew Goodhead
Weiterführende Informationen:
LGBTIQA+ Netzwerk Londoner Hospize
https://www.hospiceuk.org/latest-from-hospice-uk/why-do-we-need-london-hospice-lgbt-network
Blogartikel Max Appenroth (2021) „Ins Zimmer für Männer oder Frauen?“
https://www.hospiz.at/blog/ins-zimmer-fuer-maenner-oder-frauen/
Deutsches Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® für stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste, Tagespflegestätten, Hospize und Krankenhäuser, die in struktureller, organisationspolitischer und personeller Hinsicht Voraussetzungen für LSBTI*-sensible und (post-)migrationssensible Settings schaffen wollen
https://schwulenberatungberlin.de/qualitaetssiegel-lebensort-vielfalt/
Überblick über vielfältige Organisationen, Hilfsangebote und Gruppierungen zum Thema sexuelle Orientierung
https://www.hosiwien.at/links/
St. Christophers Hospice London
https://www.stchristophers.org.uk/

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