Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Jenseits der Trauer: Vom Umgang mit Wut und Zorn von Sterbenden

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Wenn das Lebensende naht, wird es emotional. Als professionell oder ehrenamtlich Tätige*r, aber auch als persönliche*r Begleiter*in von sterbenden Menschen erleben wir, wie intensiv diese Emotionen sein können und dass der drohende Verlust des eigenen Lebens auch wütend und zornig machen kann. Mit Wut und Ärger in großer Intensität umzugehen, fällt mitunter nicht leicht. Schauen wir gemeinsam „hinter die Kulissen“ dieser Gefühle. Wenn wir verstehen, worin diese Emotionen ihre Ursachen haben, so können wir ihnen konstruktiv begegnen.

Ein kranker und sterbender Mensch hat viele gute Gründe, wütend und ärgerlich zu sein. Wut ist eine normale Reaktion auf verschiedene Ursachen. Sie kann sich sowohl nach außen, z.B. gegen andere Personen, als auch gegen einen selbst richten. Wütend zu sein ist wichtig und auch gesund, aber die Wut sollte entsprechend kanalisiert werden, um nicht verletzend zu wirken. Im Prozess zum Lebensende hin haben diese Gefühle zum Beispiel folgende Ursachen:

Die Veränderung des eigenen Zustands: Wenn der eigene Körper, der immer gut funktioniert hat, nun in alltäglichen Situationen Hilfe benötigt, nicht mehr so aussieht wie früher oder gar entstellt ist, kann das wütend machen. Hilfsbedürftigkeit stellt eine große Veränderung dar. Hilfsangebote, auch wenn diese gut gemeint sind, können das Gefühl von Abhängigkeit und Kontrollverlust auslösen oder verstärken, was nicht immer gut zu ertragen ist.

Bedrängnis: Kranke Menschen werden häufig bedrängt. Die Abhängigkeit von der Verfügbarkeit anderer, die ständigen Termine, eine vorgegebene Tagesstruktur, die nicht immer mit der eigenen Vorstellung übereinstimmt, und auch die vielen Entscheidungen, die von kranken Menschen getroffen werden müssen oder von anderen für sie getroffen werden, können Gefühle der Bedrängnis auslösen. Eine mögliche Reaktion auf diese Einengung ist Wut. Der Ausdruck von Wut und Ärger kann auch Reaktion auf eine Interaktion sein und verschafft, zumindest für eine kurze Zeit, etwas Distanz.

Wut auf die Krankheit: Die Krankheit symbolisiert Verlust – von all dem, was künftig nicht mehr gemacht und erlebt werden kann. Diese existenzielle Verzweiflung geht mit sehr starken Emotionen einher.

Wahrnehmungseinschränkungen: Wütendes oder gar aggressives Verhalten kann auch eine Reaktion auf eingeschränkte Wahrnehmung sein. Wenn z.B. durch verschlechtertes Sehvermögen, einsetzende Schwerhörigkeit und das Nachlassen von kognitiven Fähigkeiten Situationen nicht mehr richtig eingeschätzt werden, kann sich die aufkommende Unsicherheit in aggressivem Verhalten bemerkbar machen.

Wut gegen sich selbst: Die Ursache für Wut gegen sich selbst liegt oft darin, dass Menschen den Grund für das Auftreten einer Erkrankung im eigenen fehlerhaften Verhalten suchen.

Verständnis für die Ursachen dieser Gefühle ist wichtig für den Umgang mit wütenden Menschen.

Wenn gesunde Menschen wütend sind, haben sie viele Möglichkeiten, diese Wut auszudrücken, also „ihrem Ärger Luft zu machen“. Sei es durch direktes Ansprechen, einen Schrei, einen Tagebucheintrag, sportliche Betätigung oder andere Freizeitaktivitäten oder einfach, indem die Person den Raum verlässt, um dann weit weg von der Quelle des Ärgers durchzuatmen.

Ein Mensch mit einer schweren Erkrankung hat viele dieser Möglichkeiten nicht mehr. Körperliche Einschränkungen, Hospitalisierung oder unausgesprochene Regeln, wie man sich als kranker Mensch zu verhalten hat, machen viele Formen des Ausdrucks unmöglich. Übrig bleiben der verbale oder körperliche Ausdruck im Rahmen eines sehr eingeschränkten Radius. Um Aggression „loszuwerden“, ist oft ein Gegenüber notwendig. Da Sie als professionelle*r oder ehrenamtliche*r Begleiter*in oder als Freund*in oft einer der wenigen zur Verfügung stehenden Menschen sind, kann es auch Sie treffen – manchmal auch nur, weil eben zufällig Sie vor Ort sind.

Bitte bedenken Sie, dass dieser Gefühlsausdruck nicht unbedingt etwas mit Ihnen persönlich zu tun haben muss.

Wie können wir reagieren?

Gestehen Sie dem*der Sterbenden zu, dass diese Emotionen einen Grund haben und berechtigt sind. Wenn Sie die Intensität der Emotion in der Sekunde des Auftretens überfordert, so wenden Sie sich kurz ab, falls dies möglich ist, oder halten Sie kurz inne, und atmen Sie tief durch.

Versuchen Sie dem kranken Menschen dabei zu helfen, die negativen Gefühle zu kanalisieren, sodass diese niemanden verletzen. Sprechen Sie es direkt an, wenn Sie sich durch das wütende Verhalten verletzt fühlen, und erkunden Sie mit der erkrankten Person, was ihr guttun würde. Graben Sie gemeinsam in der Erinnerung, was in früheren Phasen bei aufkommender Wut hilfreich war. Wenn es früher das Joggen war, kann es jetzt vielleicht die Fahrt mit dem Rollstuhl durch den Park sein. Wenn früher das „Runterkommen“ durch Lesen hilfreich war, so ist es jetzt vielleicht ein Hörbuch. Und wichtig: Führen Sie ein Gespräch. Was genau macht diese Person so wütend? Es ist für Menschen in diesen Krisen oft nicht einfach, das klar zu formulieren. Wenn Sie aber den Grund erfahren, können Sie helfen, Lösungen zu finden.

Rainer Simader, Leiter Bildungswesen Dachverband Hospiz Österreich.
Dieser Text stammt ursprünglich aus dem Buch „99 Fragen an den Tod. Leitfaden für ein gutes Lebensende“ von Claudia Bausewein und Rainer Simader, erschienen bei Droemer. Für diesen Blogbeitrag wurde er leicht verändert. Mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag.   

© Foto: freerangestock.com / Fotograf Jack Moreh