Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Ich habe viel über ihn und mich gelernt.

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Gespräch mit Sabine Wiessner, Lebensgefährtin von Robert, 61 Jahre, Wiener, früher Installateur in einer Großbäckerei

 

Wie hat das alles begonnen?

Im Jahr 2020 hat Roberts Arbeitsleistung nachgelassen. So merkbar, dass sein Chef ihn gefragt hat, was denn mit ihm los ist. Er konnte auf einmal nicht mehr schreiben und hatte auch andere Schwierigkeiten, seine Arbeit zu erledigen.

Der Neurologe hat ein Burnout diagnostiziert und ihm Psychopharmaka verordnet. Aber als es ihm dann noch schlechter ging, hat er damit wieder aufgehört. Er war im Krankenstand, hat danach er wieder angefangen zu arbeiten, konnte aber nicht mehr richtig Auto fahren. Dann ist er auf dem Glatteis ausgerutscht und es wurde immer schlimmer, zu Hause hat er nur geschlafen – ein kompletter Rückzug.

Der Neurologe hat ihn ins Krankenhaus eingewiesen, das 1. CT ergab ein Subduralhämatom (= Einblutung zwischen zwei Hirnhäuten). Er wurde operiert, war dann sehr verwirrt und über ein Jahr wurde es nicht besser.

Dann hat er den Neurologen gewechselt, wurde ins AKH überwiesen, dort zwei Wochen stationär durchgecheckt, dann wurde eine Demenz festgestellt. Beim Mini Mental Test kann man maximal 30 Punkte erreichen, bis 27 Punkte spricht man von einer leichten kognitiven Beeinträchtigung. Er hatte 11. Die Diagnose lautete: eine spezielle Kombination corticobasaler Degeneration und Alzheimer-Demenz.

Dann begannen auch motorische Probleme, Apraxie, das ist eine neurologische Störung und bezeichnet die Unfähigkeit, zielgerichtete Bewegungen und Handlungen sinnvoll und geordnet auszuführen. Das Schlimme war, dass er noch alles mitbekommen hat, aber den Grund nicht wahrhaben wollte. Wenn er nicht schreiben konnte, war es der Stift. Wenn er das Fenster nicht öffnen konnte, war es der Griff, – und so weiter.

Was bedeutet die Krankheit für die Angehörigen?

Es hat insgesamt bis zur Diagnose zwei Jahre gedauert. Als er im AKH die Aufklärung bekam, war seine erste Reaktion: „Ich möchte nicht, dass das jemand erfährt.“

Jetzt hat er keine Selbstreflexion mehr. Gehen kann er, aber sonst kaum etwas. Handlungsplanung – wie Kaffee machen oder Anziehen – geht nicht mehr.

Die 24-Stunden-Betreuung leisten wir, ich als Lebensgefährtin und seine Schwester, wir leben in einem Doppelhaus Tür an Tür. Auch seine Mutter, die ist allerdings schon 90 Jahre alt und will die Situation auch nicht ganz wahrhaben.

Wenn wir Glück haben, geht er ins Tageszentrum, aber eigentlich will er am liebsten in seiner Wohlfühlzone bleiben. Früher hat er sich dann Ausreden ausgedacht oder unter der Bettdecke versteckt, um zu Hause zu bleiben.

Aber er ist ein Gentleman. Jetzt ist es so, dass er mich begleitet, weil ich einen „Termin mit der Leiterin des Tageszentrums“ habe, und dann dortbleibt, bis mein „Termin“ zu Ende ist. Die Fahrt dorthin bedeutet eine Verunsicherung für ihn, er hängt extrem an mir und will mich nicht allein lassen.

Allein kann er kaum mehr sein. Die Alltagsbegleitung der CS Caritas Socialis kommt zu uns nach Hause, ich habe die Arbeit auf 30 Stunden reduziert, als Krankenschwester auf einer Intensivstation mache ich wochentags Nachtdienste, tagsüber kommen seine Schwester oder die Alltagsbegleitung. Es wäre leichter, wenn er öfter ins Tageszentrum ginge.

Das Langzeitgedächtnis ist da, Persönlichkeit und Charakter sind da, aber sonst – die absolute Hilflosigkeit. Früher war er teilselbstständig, aber seit einem Jahr ist er ein Pflegefall. Wir versuchen alles Mögliche, aber wir wissen auch, dass es nicht ewig gehen wird, ihn rund um die Uhr 24 Stunden zu betreuen, trotz Unterstützung durch FSW (Fonds Soziales Wien), CS (CS Caritas Socialis) und Caritas. Seine Erkrankung ist sehr einschränkend, die corticobasale Degeneration bringt auch ein Alien-limb-Phänomen mit sich, das bedeutet, dass er das Gefühl hat, dass eine Extremität nicht zum eigenen Körper gehört.

Er versteckt seine Sachen, weil er langsam die Übersicht verliert. Die Krankheit verläuft in Schüben, vermehrt hat er auch Wahn- und Zwangsvorstellungen, fühlt sich bedroht, glaubt, dass jemand uns das Haus wegnehmen möchte. Er kann oft nicht benennen, was ihn quält, und muss Dinge verscheuchen. Manchmal hat er auch Zwangsvorstellungen, zum Beispiel, dass – wenn er nicht dauernd die Tür auf und zu macht – in Uruguay 5.000 Menschen sterben. Dann hilft ein validierender Zugang und ihn ernst zu nehmen. Man muss sich herantasten.  Ich sage dann: „Das ist ja wirklich sehr anstrengend, Du musst Dich ja auch einmal ausrasten. Willst Du nicht einen Kaffee trinken?“ und, wenn er einverstanden ist, ist es dann gut.

Seine Schwester hat Hunde und Katzen, die beruhigen ihn auch sehr. Wenn gar nichts mehr fruchtet, dann helfen die Tiere immer. Gehen beruhigt ihn, er geht pro Tag 10 Kilometer, am liebsten mit den Hunden. Deshalb ist er körperlich fit und kann uralt werden.

Wie geht es Ihnen?

Ich sage nicht mehr gut, sondern stabil. Ich verliere meinen Partner. In der Angehörigengruppe hat jemand gesagt, dass wir eigentlich schon Witwen sind. Sein Charakter ist noch da, sein Schmäh, seine Erinnerungen, aber sonst lebe ich mit einem Schatten seiner selbst. Seit einem Jahr gehe ich in die Angehörigengruppe, dort gibt es eine Dame, die Angehörige berät, besonders auch in medizinischen Fragen. Regelmäßig bin ich auch bei einer Psychiaterin, die sich mit Demenz auskennt. Meine Familie ist da, aber auch manchmal eine Belastung. Ich habe zwei Kinder, Eltern, eine Schwester. Sie sehen natürlich, was los ist. Und wenn sie sagen: „Schau‘ auf Dich, denk‘ auch an Dich!“ und so weiter, dann fühle ich mich manchmal unter Druck gesetzt und habe das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Es ist also eine Gratwanderung zwischen diesem Druck, der Frage ‚Wie lange geht es geht noch?“, meinem schlechten Gewissen, seiner Familie und dem Wunsch, ihn so lange wie möglich zu Hause zu behalten. Die Familie leidet immer mit. Meine Kinder haben seit 16 Jahren ein gutes Verhältnis zu Robert, sie leiden auch und müssen getröstet werden. Meine Mutter hat mit ihrem Schwiegersohn eine sehr innige Beziehung gehabt, die ist auch weg.

Ich leide beim Zuschauen, wie er immer weniger wird. Das ist eine Folter. In dem Haus, das er selbst gebaut hat, weiß er nicht mehr, wo die Lichtschalter sind. Dann wird er nervös, ungehalten, fahrig. Er hat keine Einsicht in seine Krankheit. Es ist andererseits auch eine Gnade, dass ihm nicht bewusst ist, wie er beieinander ist.

Meine Familie bietet auch Hilfe an, ist aber nicht präsent. Bemitleiden ist auch Belastung. Das haben die Kinder verstanden. Manchmal kommen sie zu zweit, einer unternimmt dann etwas mit mir, der andere betreut inzwischen Robert.

Es sind wenige Freunde übriggeblieben, nur sehr gute Freunde melden sich regelmäßig. Viele, die ihn am Anfang besucht haben, sind später weggeblieben, sie wollen ihn nicht so sehen. Ich kann das verstehen, Robert wäre genauso.

Demenz ist immer noch ein Tabuthema. Niemand will darüber reden. Als, ob die Gefahr besteht, dass man es dann selbst auch bekommt. Aber erst, wenn ich darüber spreche, höre ich, wie viele es wirklich betrifft. Es gehört viel mehr darüber geredet. Die Initiative Wien wird demenzfreundlich! finde ich gut.

Es gibt auch neue Freundschaften, die Hilfe anbieten. Ich habe über Robert neue Freundschaften geschlossen, die auch mitbetreuen, wenn Not am Mann ist. Wenn jemand anbietet, mit ihm drei Stunden spazieren zu gehen, dann nimmt er das auch an. Es spricht auch seinen Gentleman-Charakter an. Er ist sehr höflich und, wenn er gefragt wird, ob er jemanden begleiten möchte, dann zieht er sich schon an.

Natürlich frage ich mich: „Wie wird es weitergehen? Wird er mehr Wahnvorstellungen bekommen, Menschen nicht mehr erkennen? Wird das Langzeitgedächtnis ganz verschwinden, der komplette Rückzug kommen?“ Die Angst davor gibt es.

Ich wirke gefasst, aber ich habe sehr schlechte Phasen gehabt, war sehr verzweifelt. Die Trauerphasen durchlaufe ich bei Robert auch, immer stirbt etwas, immer verabschiede ich mich. Jedes Mal gibt es diese Trauer, nichts ist verhandelbar.

Gibt es auch etwas Gutes?

Die Beziehung ist extrem intensiv. So hätte ich ihn vorher nie kennengelernt. Ich bin an der Betreuung gewachsen, musste mich öffnen, anderen gegenüber, musste um Hilfe bitten und sie annehmen. Ich habe gelernt, dass viel Unterstützung aus der Umgebung kommt, auch von der Stadt Wien und unbürokratisch. Sobald ich sage, mein Lebensgefährte ist dement, öffnen sich Türen, Menschen sind viel hilfsbereiter. Sogar die grantigen Wiener sagen: „Ah so, na dann …!“

Aber es gibt nichts Positives an der Krankheit, sie endet fürchterlich. Es ist gut, dass er sie so nicht wahrnimmt. Ich habe viel über ihn und mich gelernt. Die Priorität ist HEUTE.

Früher sind wir viel auf Urlaub gefahren. Das letzte Mal hatte er bei 140 km/h auf der Autobahn das Gefühl, dass ich ihn bedrohe. Darauf habe ich den Urlaub abgebrochen.

Früher hätte er gesagt, bei Demenz töte ich mich. Er wollte nie von anderen abhängig sein.

Wie ist das mit der Würde?

Seine Würde ist intakt. Er wird ernst genommen. Es wird viel mit ihm unternommen, wenn und was er sich wünscht. Das Körperliche macht ihm keine Schwierigkeiten, von Anfang an hat er sich von einer Freundin die Nase putzen lassen.

Das Schlimmste ist das hilflose Zuschauen, wenn er leidet, wenn er immer weniger wird, wenn er unruhig und angespannt ist, – und der Verlust des Partners und der Zukunft – seiner, meiner, unserer gemeinsamen Zukunft.

Die Spiegelneuronen funktionieren, deshalb muss ich achtgeben. Sobald es mir schlecht geht, bekommt er das mit. Wenn ich weine, weint er auch.

Was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir, er würde gesund werden. Oder stabil bleiben, dass es nicht so schnell schlechter wird. Je weniger angespannt und unruhig er wird, desto länger kann er zu Hause bleiben. Seine Schwester ist schon am Ende ihrer Kräfte.

Oder, dass es so schnell schlecht wird, dass er schnell in seiner Welt ankommt, keine Ängste mehr hat, entspannt ist in der Demenz. Der Weg dorthin ist für ihn und alle, die zusehen müssen, heftig.

Was würden Sie anderen in dieser Situation raten?

Schnell Hilfe suchen, Beratung – auch für Angehörige – in Anspruch nehmen, Unterstützung annehmen, um lange Kraft zu haben.

Nur in Angehörigengruppen trifft man Menschen gleichen Alters mit gleichen oder ähnlichen Problemen, sonst findet man es ja eher in der Elterngeneration.

Und – sich selbst nicht darin verlieren, viele Sozialkontakte pflegen, das hält einen und gibt Kraft.

Ich bin Krankenschwester, deshalb kann ich die Pflege übernehmen. Aber, nur weil ich etwas kann, heißt das nicht, dass ich alles muss. Es hat mir deshalb schon sehr gutgetan, Hilfe zu holen und zu bekommen.

Was wünschen Sie sich für sich selbst?

Irgendwann Zeit für mich, entspannen für längere Zeit, nicht nur ausnahmsweise kurz zwischendurch.

Und mal wieder Dinge tun, die ich mag.

 

Das Gespräch führte Catrin Neumüller.

Bild: pexels