
„Marianne, finally we made it!“, Dr. Christian Ntizimira lacht am anderen Ende der WhatsApp Leitung. Der Mediziner aus Ruanda ist mit seiner Mission und seinem Herzensanliegen – der kultursensiblen End-of-Life Care, die jede Einstellung zu Tod und Sterben respektiert und in Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensumständen sieht, – international unterwegs.
Er ist der Überzeugung, dass Pflege am Lebensende ein Menschenrecht ist und dass diese Pflege die Würde des Einzelnen, lokale Werte, Menschlichkeit und Ubuntu* in den Vordergrund stellen sollte. Deshalb gründete und leitet Dr. Christian Ntizimira seit Oktober 2019 das African Center for Research on End-of-Life Care (ACREOL) in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, und wurde 2018 durch die World Hospice and Palliative Care Alliance für seine Arbeit als zentraler Fürsprecher für die Entwicklung der Palliativversorgung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ausgezeichnet.
„Die Betreuung am Lebensende gab es schon lange vor der modernen medizinischen Praxis. Die Perspektiven der ehemals kolonialisierten Länder können dazu beitragen, weltweit eine integrativere und kulturell sensiblere Versorgung am Lebensende zu schaffen, die die unterschiedlichen Einstellungen zu Tod und Sterben respektiert.“, schreibt Christian Ntizimira im Beitrag „End-of-life care needs decolonising“ in einer der renommiertesten medizinisch-wissenschaftlichen Fachzeitschriften BMJ.
Ich treffe Christian Ntizimira in der stillen Zeit „zwischen den Jahren“, um über Ubuntu*, sorgende Gemeinschaften und darüber, was ihm Kraft gibt, zu sprechen.
In Deinem Bewerbungsschreiben für die Harvard Medical School schriebst Du, dass nicht nur Du, sondern ein ganzes Land (Anm. Ruanda) ausgebildet werden sollte. Was meintest Du damit?
Als ich mich für das Fulbright Stipendium in Harvard bewarb, gab es so etwas wie „Palliative Care“ in Ruanda nicht. Ich hatte eine Ausbildung zum Chirurgen absolviert und mein Ziel war es, dem Leid, dem ich tagtäglich begegnete, etwas entgegensetzen zu können. Gleichzeitig war mir klar, dass ich allein Veränderungen und Entwicklung nicht schaffen konnte. Ein weiteres Ziel war daher, eine fundierte Ausbildung zu erhalten, um sie in meinem Land dann an meine Kollegen weitergeben zu können. Ich wollte mich stellvertretend für die gesamte medizinische Gemeinschaft Ruandas bewerben, da ich vorhatte, mein Wissen mit ihr zu teilen.
Was war die Antwort?
Ich wurde aufgenommen (lacht). Weißt Du, sie haben mir gesagt, dass meine Bewerbung die beste in diesem Jahr war. Nicht etwa, weil ich die schillerndsten Sätze formulieren konnte, sondern, weil es mir um die Community ging, die Weiterentwicklung der Palliative Care in meinem Land. Es ging und geht mir nicht um mich selbst und um meine Karriere – es geht mir um uns alle.
Wie war die Rückkehr nach Ruanda nach der Ausbildung? Hat alles so geklappt, wie Du es Dir vorgestellt hast?
Ja, zum großen Teil schon. Ich habe meine Kolleg:innen ausgebildet, Trainingscenter gegründet. Mit der Zeit aber habe ich festgestellt, dass mein Fokus immer auf den Krankheiten und nicht auf den Patient:innen lag. Die Frage, die mich beschäftigte, war: „Wie kommen wir zu ausreichend Morphium?“. Dann habe ich bemerkt, dass das nicht der Zugang war, den ich wollte. Ich musste meinen Blickwinkel verändern und nicht mehr die Krankheit, sondern die Individuen und ihr Umfeld in den Fokus nehmen. Das war der Zeitpunkt, an dem die community wirklich wichtig wurde.
Du betonst wiederholt die Bedeutung eines community-basierten Ansatzes in der Palliative Care. Siehst Du Unterschiede zwischen den Ansätzen und den Bedürfnissen von Gesellschaften im globalen Süden und im globalen Norden?
Das kann ich nicht schnell beantworten. Wichtig ist der Kontext, in dem der Mensch lebt. All seine Bedürfnisse, Wünsche, seine Familie, sein ganzes Leben steht im Zusammenhang mit der Gesellschaft, der er angehört. Aus diesem Kontext heraus ergeben sich automatisch Unterschiede –nicht nur zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden, sondern zwischen fast allen Menschen. Auch innerhalb einer „community“ können Kontexte ähnlich, zumindest vertraut sein, aber letztlich geht es darum, den gesamten Menschen in seinem einzigartigen Umfeld zu erfassen und zu begleiten. Es geht eigentlich um Menschlichkeit, egal, wo auf der Welt.
In Deinem BMJ Beitrag schreibst Du, dass ein zentraler Bestandteil der Hospiz- und Palliativarbeit in Westeuropa und der angloamerikanischen Welt – nämlich die Vorausschauende Planung – anders gedacht werden muss. Wie sieht dieses „anders“ aus?
Ah, hier liegt ein Missverständnis vor! Das, was ich meine, ist eben wieder der Kontext. In Ruanda zum Beispiel ist es nicht üblich, Wünsche und Bedürfnisse aufzuschreiben. Schon deswegen, weil es sehr viele Analphabeten gibt. Viele Menschen geben ihr Vermächtnis, ihre Wünsche verbal an ihre An- und Zugehörigen weiter. Und es ist ganz klar, dass die Ärzte und Pflegepersonen diese Wünsche dann auch berücksichtigen. Weißt Du, in Ruanda haben wir ein Sprichwort: „As long as you’re well, you belong to yourself. As soon as you’re sick, you belong to your family.“ („Solange Du gesund bist, gehörst Du Dir selbst. Sobald Du krank bist, gehörst Du der Familie“.) Wir meinen damit, dass die Vulnerabilität in Zeiten einer Erkrankung gemeinsam in der Familie oder in der Gemeinschaft getragen wird. Die Patientenautonomie und die Verantwortung der Familie gegenüber dem Erkrankten gehen Hand in Hand.
Das ist unser Kontext. Daran wird sichtbar, dass die Gegebenheiten für Vorausschauende Planung in Ruanda, ganz anders sind als, zum Beispiel, in Österreich. Diese Kontextualisierung zieht sich durch meine gesamte Arbeit und ist mir ein zentrales Anliegen.
Du reist um die Welt, um über das „The Safari-concept“ und Ubuntu zu sprechen. Du erzählst dabei immer wieder von Kollegen, die sagen: „Was Du da in Ruanda machst, ist keine Palliative Care.“ Was gibt Dir dann die Kraft, trotz allem ‚auf Kurs‘ zu bleiben?
In Ubuntu sagen wir „I am, because you are“ und das ist meine Überzeugung. Trotz aller Hürden und Umstände glaube ich an die Menschheit und an die Menschen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir im Kern alle gleich sind. Und ich weiß, dass ich überall auf der Welt Verbündete finde, die ebenso den Glauben an die Menschlichkeit in sich tragen. Das gibt mir Kraft und bestärkt mich.
Das Gespräch führte Marianne Buchegger
Dr. Christian Ntizimira ist Gründer und Geschäftsführer des African Center for Research on End-of-Life Care (ACREOL), einer gemeinnützigen Organisation, die durch „Ubuntu in der End-of-Life Care“ soziokulturelle Gleichheit in Afrika fördern möchte. Er ist Fulbright-Alumnus und absolvierte ein Studium an der Harvard Medical School, Department of Global Health and Social Medicine. Dr. Ntizimira begann seine medizinische Karriere mit dem Ziel, Chirurg zu werden, doch die Folgen des Völkermords an den Tutsi im Jahr 1994 führten zu seiner Leidenschaft für Palliativpflege.
*Das Wort Ubuntu kommt aus den Bantusprachen der Zulu und der Xhosa und bedeutet in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“ sowie die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Ubuntu kann aufgefasst werden als „gemeinsam zu Menschen werden, einander wechselseitig menschlich machen“
(Was ist afrikanische Philosophie? Afrikas Denken hat der Welt heute viel zu geben. Ein Gespräch mit dem senegalesischen Philosophen Souleymane Bachir Diagne über die Ideen des Ubuntu und dass jeder Mensch eine Kraft ist. In: DIE ZEIT. 9. November 2023, ISSN 0044-2070).
I am, because you are.
“Marianne, we finally made it!” Dr Christian Ntizimira laughs on the other end of the WhatsApp call. The doctor from Rwanda is traveling the world with his mission and heartfelt commitment to culturally sensitive end-of-life care that respects and contextualizes diverse attitudes towards death and dying.
He firmly believes that end-of-life care is a human right and that such care should emphasize individual dignity, local values, humanity, and Ubuntu*. For this reason, Dr Christian Ntizimira founded and has led the African Center for Research on End-of-Life Care (ACREOL) in Kigali, the capital of Rwanda, since October 2019 and was recognized by the World Hospice and Palliative Care Alliance in 2018 for his work as a leading advocate for the development of palliative care in low- and middle-income countries.
„End-of-life care existed long before modern medical practice. The perspectives of formerly colonised countries can help to create more inclusive and culturally sensitive end-of-life care worldwide that respects diverse attitudes to death and dying.“ writes Christian Ntizimira in the article ‘End-of-life care needs decolonizing’ in one of the most renowned medical-scientific journals BMJ.
We meet during the quiet time „between the years“ to talk about Ubuntu*, caring communities and about what gives him strength.
In your application letter to Harvard Medical School, you wrote that not only you, but an entire country (Rwanda) is being educated. What did you mean by that?
When I applied for the Fulbright scholarship at Harvard, „palliative care“ as such did not exist in Rwanda. I was training to be a surgeon, aiming to counteract the suffering I encountered daily. At the same time, I knew I couldn’t bring about change and development alone. One of my goals was to gain profound training that I could pass on to my colleagues in Rwanda. So, my application was meant as a representation of my entire Rwandan medical community, knowing I would share my knowledge with them.
What was the response?
I was accepted. (laughs) You know, they told me my application was the best that year, not because I wrote the most eloquent sentences, but because it was about the community. The development of palliative care in my country. It wasn’t about me or my career—it was about all of us.
How was your return to Rwanda after the training? Did everything work out as you had envisioned?
Yes, for the most part. I trained my colleagues, established training centres. But over time, I realized my focus was always on diseases, not the patients. I was preoccupied with the question, “How do we get enough morphine?” I realized that this was not the approach I wanted. I had to change my perspective, focusing not on the disease but on the individuals and their surroundings. That was the point when the community became truly important.
You repeatedly emphasize the importance of a community-based approach to palliative care. Do you see differences between the approaches and needs of communities in the Global South and the Global North?
That’s not a quick answer. What’s important is the context in which a person lives. All their needs, desires, their family, their entire life are interconnected with the society they are part of. From this context, differences naturally arise—not just between the Global South and the Global North, but between almost all people. Even within a community, contexts might be similar or familiar, but ultimately, it’s about capturing and supporting the whole person in their unique environment. It’s essentially about humanity, no matter where in the world.
In your BMJ Opinion article, you write that a central component of hospice and palliative care in Western Europe and the Anglo-American world—namely, advance care planning—needs to be thought of differently. What does this „different“ look like?
Ah, there’s a misunderstanding! What I mean is context. In Rwanda, for example, it’s not common to write down wishes and needs, partly because the literacy rate is quite low. Many people pass on their legacy and wishes verbally to their loved ones. And it’s clear that doctors and caregivers respect these verbal wishes. You know, in Rwanda, we have a saying: „As long as you’re well, you belong to yourself. As soon as you’re sick, you belong to your family.“ It means that vulnerability during illness is carried together by the family or community. Patient autonomy and the family’s responsibility towards the patient go hand in hand.
That’s our context. It shows that the circumstances for advance care planning in Rwanda are very different from, say, Austria. This contextualization runs through all my work and is central to me.
You travel the world to speak about „The Safari Concept“ and Ubuntu. You often share stories of colleagues who say, „What you’re doing in Rwanda is not palliative care.“ What gives you the strength to „stay the course“ despite it all?
In Ubuntu, we say, „I am, because you are,“ and that is my belief. Despite all challenges and circumstances, I believe in humanity and in people. I am convinced that we are all the same at our core. And I know that I will find allies around the world who also carry the belief in humanity within them. That is what gives me strength and sustains me.
The interview was conducted by Marianne Buchegger