Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

How to…. Sorgende Gemeinschaften für Hospiz und Palliative Care aufbauen

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Ich bin ziemlich nervös, als ich dem Teams-Meeting mit Libby Sallnow beitrete – schließlich spreche ich gleich mit einer Palliativmedizinerin und einer der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Caring Communities – dt. Sorgende Gemeinschaften und Compassionate Communities – dt. Mitfühlende Gemeinschaften.
Doch dann beginnt das Gespräch und ich treffe auf eine sehr freundliche junge Frau, die eine fröhliche, mit Wildvögeln bestickte Weste trägt. Völlig normal, denke ich, und meine Nervosität verfliegt…

Libby, vielen Dank, dass Du Dir heute Zeit genommen hast. Kannst Du uns zu Beginn erzählen, was Dich zur Arbeit in der Hospiz und Palliative Care geführt hat?

Mein Interesse speist sich aus persönlichen Erfahrungen. Als Jugendliche habe ich viel Zeit mit ehrenamtlicher Arbeit in Pflegeheimen verbracht, was meine Sicht auf Gesundheit und Wohlbefinden geprägt hat. Später, während meines Medizinstudiums, habe ich gesehen, dass die End-of-Life-Versorgung oft nur auf die Symptombehandlung fokussiert war und breitere soziale und emotionale Aspekte übersehen wurden. Das hat mich dazu inspiriert, ganzheitliche, gemeinschaftszentrierte Ansätze in der Pflege und Betreuung zu erforschen.

Was genau sind „Compassionate Communities“ und warum sind sie so wichtig?

Compassionate Communities – dt. Mitfühlende Gemeinschaften – sind Netzwerke, die Gesundheitsfachkräfte, Freiwillige, Familien und Nachbarn zusammenbringen, um Menschen in der letzten Lebensphase zu unterstützen. Im Gegensatz zu traditionellen medizinisch – technischen „Versorgungsmodellen“ sind in den Sorgenden Gemeinschaften Beziehungen, Inklusion und gegenseitige Unterstützung zentral.

Wie zum Beispiel unser Projekt „Compassionate Neighbours“. Bei diesem Projekt wird jeweils ein:e Freiwillige:r mit einer bedürftigen Person zusammengebracht, damit eine tragfähige und bereichernde Verbindung entsteht, um die Einsamkeit zu lindern und zugleich praktische Hilfe zu bieten.

Die Bedeutung dieser Gemeinschaften liegt in ihrer Fähigkeit, soziale Unterstützung mit medizinischer Versorgung zu verknüpfen. Sie stellen sicher, dass Menschen in schwierigen Zeiten nicht allein sind und dass auch betreuende Personen sich unterstützt fühlen.

Welche Herausforderungen gibt es hinsichtlich der Erreichbarkeit bzw. Zugänglichkeit von „Mitfühlenden Gemeinschaften“?

Eine große Herausforderung ist der Zugang für Menschen, die aufgrund unterschiedlicher demografischer Merkmale oder bestimmter Erkrankungen, wie zum Beispiel Demenz, im Gesundheitssystem grundsätzlich benachteiligt sind. Immer wieder werden diese Personen von Hospiz und Palliative Care-Initiativen ausgeschlossen. Dies liegt an Ungleichheiten in der Behandlung, an gesellschaftlicher Stigmatisierung und Barrieren im Umgang mit Krankheiten wie Demenz.

Außerdem ist der Tod an sich für viele Menschen ein schwieriges Thema. Er wird oft als ein Versagen der Medizin und nicht als ein natürlicher Teil des Lebens gesehen. Wenn Entscheidungsträger:innen selbst Probleme mit dem Thema Tod haben, hindert es sie ev. auch daran, sich für die Finanzierung und Unterstützung von Hospiz und Palliative Care am Lebensende einzusetzen.

Was kann getan werden, um diese Herausforderungen zu überwinden?

Bildung ist entscheidend. Eine Schulung von Mitgliedern einer Community, z.B. einer Nachbarschaft, darin, wie sie mit Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen umgehen und für sie Sorge tragen können, ist ein wichtiger Bestandteil der Schaffung eines inklusiven Systems. Dazu gehört das Vermitteln praktischer Fähigkeiten wie Kommunikationstechniken und grundlegender Pflegeaufgaben. Immer häufiger verwenden wir den Begriff „Death Literacy“ (Sterbe-Kompetenz), um diese Arbeit zu beschreiben.

Gespräche über Tod und Sterben müssen generell enttabuisiert  – also „normal“ werden. Das Teilen persönlicher Geschichten, das Veranstalten von z.B. Erzählcafés oder auch Berichte von Erfolgsstories aus anderen Caring Communities können dazu beitragen, die öffentliche Wahrnehmung zu verändern.

Wie arbeiten Compassionate Communities mit formalen Gesundheitssystemen zusammen?

Idealerweise ergänzen sie die professionelle Versorgung. Während klinische Dienstleistungen weiterhin essenziell sind, um komplexe medizinische Bedürfnisse zu behandeln, füllen „Compassionate Communities – Mitfühlende Gemeinschaften“ Lücken, indem sie soziale und emotionale Aspekte der Betreuung abdecken.

Der Schlüssel dabei ist die Integration. In Großbritannien bauen einige Hospizprogramme Brücken zwischen der professionellen Gesundheitsversorgung und informellen Netzwerken, indem sie lokale Freiwillige in die Hospiz und Palliative Care einbinden. Dies schafft ein kohärenteres System, in dem Fachkräfte und Communities effektiv zusammenarbeiten.

Wie sieht Nachhaltigkeit für diese Initiativen aus?

Nachhaltigkeit hängt davon ab, wie diese Initiativen in das Gefüge lokaler Gemeinschaften eingebettet werden. Es ist nicht genug, ein Projekt zu starten und sich auf eine einzelne Person oder externe Finanzierung zu verlassen, sondern wir brauchen Netzwerke, die mit bestehenden Strukturen wie Schulen, Kulturinstitutionen und lokalen Administration verbunden sind.

Darüber hinaus spielen Führungspersonen innerhalb einer Gemeinschaft eine entscheidende Rolle. Sie bringen Menschen zusammen, tragen Verantwortung für die Umsetzung von Schulungsmaßnahmen und schaffen ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung.

Gibt es Beispiele für Compassionate Communities, die weltweit adaptiert wurden?

Ja, und es ist inspirierend zu sehen, wie universell der Ansatz ist. Ein Beispiel ist ein Modell aus Kerala, Indien, das ich in Ost-London eingeführt habe. Die gemeinschaftsbasierte Hospiz und Palliative Care in Kerala ist ein bemerkenswertes Beispiel für kollektives Handeln. Mit rund 350 Gemeinschaftsorganisationen hat Kerala das größte Netzwerk dieser Art weltweit aufgebaut. Während im restlichen Indien nur 3-4 % der Patienten Palliativversorgung erhalten, deckt Kerala fast 60 % der Bedürftigen in allen 14 Distrikten ab.

Ein Schlüsselfaktor für diesen Erfolg ist die Integration der Hospiz und Palliative Care in das öffentliche Gesundheitssystem. Heute bieten über 900 öffentliche Gesundheitseinrichtungen – von Gesundheitszentren bis hin zu Bezirkskrankenhäusern – diese Dienste an.

Was dieses Modell wirklich einzigartig macht, ist sein ganzheitlicher Ansatz. Es geht über die medizinische Behandlung hinaus, indem es anerkennt, dass Ärzt:innen sich zwar auf Symptome konzentrieren, Freiwillige jedoch das tiefere Leiden von Patienten und ihren Familien ansprechen. Trotz kultureller und systemimmanenter Unterschiede haben sich die zugrunde liegenden Prinzipien – Beziehungen aufbauen, emotionale Bedürfnisse berücksichtigen und die Gemeinschaft einbeziehen – in Ost-London als ebenso wirksam erwiesen wie in Kerala.

Was motiviert Dich, insbesondere angesichts der Herausforderungen, „am Ball zu bleiben“?

Beziehungen. Im Kern geht es bei meiner und unserer Arbeit um den Aufbau von Bindung – zwischen Betreuenden und Patient:innen, zwischen Fachkräften und Gemeinschaften und zwischen den Menschen untereinander. Ich schöpfe viel Energie aus den Beziehungen, die durch diesen Prozess entstehen. Wenn ich beobachte, wie Menschen Vertrauen in ihre „Sorgefähigkeit“ gewinnen, oder miterlebe, wie eine Gruppe zusammen findet, um einen Nachbarn zu unterstützen. Diese Momente zeugen von der Menschlichkeit, die den Kern unserer Arbeit ausmacht.

Liebe Libby, vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Gespräch führte Marianne Buchegger

Dr. Libby Sallnow ist außerordentliche Professorin und Leiterin der Marie Curie Palliative Care Research-Abteilung am University College London. Sie arbeitet als Palliativmedizinerin im Gemeindebereich für den NHS in London, ist Gastprofessorin an der End-of-Life Care Research Group der Vrije Universiteit in Belgien und ehrenamtliche Beraterin am WHO-Kooperationszentrum für Hospiz und Palliative Care in Kerala, Indien. Sie hat in den letzten zwei Jahrzehnten maßgeblich zur Entwicklung der Bereiche „New Public Health Approaches to End-of-Life Care“, mitfühlende Gemeinschaften und soziale Ansätze für Tod, Sterben und Verlust in Großbritannien und international beigetragen. Außerdem ist sie Erstautorin der Lancet-Kommission zur Wertigkeit des Todes: Bringing Death Back into Life (2022).

Kerala : https://sabr.org.in/2024/10/30/evaluating-community-palliative-care-in-india/
Compassionate Neighbours: Compassionate Neighbours ist ein Projekt, das von St Christopher’s Hospice in ganz Südost-London in den Bezirken Lambeth, Southwark, Lewisham, Bromley und Croydon durchgeführt wird. Es ist eine gemeinschaftsgeführte, kostenlose Initiative für alle, die eine terminale Diagnose haben und sozial isoliert sind. Compassionate Neighbours sind lokale Menschen, die ihre Zeit, Gesellschaft und Unterstützung für Menschen in ihrer Gemeinde anbieten. Wir bringen Menschen basierend auf ihren Hobbys, Interessen und ihrer geografischen Nähe zusammen, in der Hoffnung, echte Freundschaften entstehen zu lassen. https://www.stchristophers.org.uk/compassionateneighbours
Caring Communitiy – Sorgende Gemeinschaft
Compassionate Communitiy – Mitfühlende Gemeinschaft

 


How to… Building Compassionate Communities for Hospice and Palliative Care


I’m quite nervous as I join the Teams meeting with Libby Sallnow – after all, I’m about to speak with a palliative care physician and one of the leading researchers in the field of Caring and Compassionate Communities. Oh boy… But then it begins, and I meet a very friendly young woman wearing a cheerful vest embroidered with wild birds. Totally normal, I think, and my nervousness fades away as our conversation begins…

Libby, thank you for joining us today. To begin with, could you share what led you to work in hospice and palliative care?

My interest stems from personal experiences. As a girl, I spent a lot of time volunteering in care homes, which shaped my perspective on health and wellness. Later, during medical school, I saw how end-of-life care often focused narrowly on symptom management, overlooking broader social and emotional dimensions. That inspired me to explore holistic, community-centered approaches to care.

What exactly are “Compassionate Communities,” and why are they so important?

Compassionate communities are networks that bring together healthcare professionals, volunteers, families, and neighbors to provide support for individuals facing end-of-life challenges. Unlike traditional medical models, they emphasize relationships, inclusion, and reciprocity. For example, a volunteer might be matched with someone in need, forming a meaningful bond that alleviates loneliness while offering practical help. The importance lies in their ability to integrate social support with medical care. They ensure that people don’t face these challenging times in isolation and that caregivers also feel supported.

Are there challenges to making these communities inclusive?

Absolutely. One significant challenge is ensuring access for people who are marginalized due to different demographic characteristics, or by the condition they have, such as people living with dementia. In many places, these individuals are excluded from palliative care initiatives. This stems from systemic inequities and societal discomfort with conditions like dementia.

Additionally, death itself is a difficult topic for many people. It’s often seen as a failure of medicine rather than a natural part of life, which can make it harder to advocate for funding and support for end-of-life care.

What can be done to address these barriers?

Education is crucial. Training community members to engage with and care for people with different needs is a big part of creating an inclusive system. This might include teaching practical skills like communication techniques or basic caregiving tasks. Increasingly we are using the term “death literacy” to describe this work.

On a broader scale, we need to normalize conversations about death and dying. Sharing personal stories, hosting community events, and highlighting success stories from Compassionate Communities can help shift public perceptions.

How do Compassionate Communities work alongside formal healthcare systems?

Ideally, these communities complement professional care. While clinical services remain essential for addressing complex medical needs, Compassionate Communities fill gaps by addressing the social and emotional dimensions of care.

However, integration is key. For example, in the UK, some hospice programs are building bridges between professional healthcare and informal networks by involving local volunteers in caregiving. This creates a more cohesive system where professionals and communities collaborate effectively.

What does sustainability look like for these initiatives?

Sustainability depends on embedding initiatives into the fabric of local communities. It’s not enough to start a project and rely on a single leader or external funding. Instead, we need networks that connect with existing systems, like schools, cultural institutions, and local governments.

Moreover, leaders within the community play a critical role. They bring people together, ensure proper training, and create a sense of shared responsibility.

Are there examples of Compassionate Communities being adapted globally?

Yes, and it’s inspiring to see how universal the need for this approach is. For instance, a model from Kerala, India, was adapted in East London. Kerala’s community-based palliative care is a remarkable example of collective action. With around 350 community organizations, it has built the largest network of its kind in the world. Unlike the rest of India, where only 3-4% of patients receive palliative care, Kerala covers nearly 60% of those in need across all 14 districts. A key factor in this success is the integration of palliative care into the public health system, making Kerala the first state to do so with its 2008 policy. Today, over 900 public health facilities, from primary health centers to district hospitals, provide these services.

What makes this model truly unique is its holistic approach. It goes beyond medical treatment, recognizing that while doctors focus on symptoms, volunteers address the deeper suffering of patients and their families. Despite cultural and systemic differences, the underlying principles—building connections, addressing emotional needs, and involving the community—proved to be just as effective in East London as they are in Kerala.

This shows that while the specifics may differ, the core idea is universally applicable.

It’s fascinating to hear about this work. Now, what keeps you motivated, especially given the challenges?

Relationships. At its heart, this work is about building connections—between caregivers and patients, between professionals and communities, and between individuals themselves.

I’m deeply energized by the bonds formed through this process. Whether it’s seeing someone gain confidence in their caregiving role or witnessing a community come together to support a neighbor, these moments remind me of the humanity at the core of what we do.

Dear Libby, thank you very much for the interview!

The interview was conducted by Marianne Buchegger

Dr Libby Sallnow is an Associate Professor and Head of Department of the Marie Curie Palliative Care Research Department at University College London. She works as a palliative medicine physician the community setting for the NHS in London, is a guest professor at the End-of-Life Care Research Group at the Vrije Universiteit in Belgium and an honorary consultant at the WHO collaborating centre in palliative care in Kerala, India. She has helped lead and develop the fields of new public health approaches to end-of-life care, Compassionate Communities and social approaches to death, dying and loss over the past two decades in the UK and internationally and the first author of the Lancet Commission on the Value of Death: bringing death back into life (2022).

Information about Kerala:
https://sabr.org.in/2024/10/30/evaluating-community-palliative-care-in-india/