Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Herr M, der zweite Akt. Eine Geschichte zu Total Pain

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Vor fast genau zwei Jahren habe ich Ihnen an dieser Stelle von Herrn M Herr M und der Schmerz erzählt. Herr M besuchte das Tageszentrum, bis sein körperlicher Zustand und seine demenzielle Erkrankung sich kurz vor dem ersten Lockdown im März 2020 verschlechtert haben. Den Töchtern erschien eine Übersiedelung ins Pflegeheim notwendig.

Herr M wollte seine Wohnung nicht verlassen, hier hatte er immer mit seiner Frau gelebt, hier hatten sie gemeinsam ihre Töchter großgezogen. Seinen Töchtern zuliebe willigte er jedoch ein und an den ersten Tagen in seinem neuen Zuhause wirkte Herr M auch entspannt. Er nahm an den gemeinsamen Aktivitäten teil, das Essen schmeckte ihm in Gesellschaft der anderen Bewohner*innen. Vor allem das gemeinsame Feiern der Messe und der regelmäßige Spaziergang mit einer ehrenamtlichen Kollegin waren für Herrn M sehr wichtig und schienen zentral für seine Lebensqualität zu sein.

Seine Töchter kamen jeden zweiten Tag zu Besuch und freuten sich, dass ihr Vater diese große Veränderung so gut meisterte.

Dann kam der Lockdown. Das „gewohnte Leben“ stand still.

Besucher*innen, externe Therapeut*innen, ehrenamtliche Kolleg*innen waren nicht mehr erlaubt. Das gemeinsame Feiern der Messe konnte nicht mehr im gewohnten Rahmen stattfinden. Alles war anders, alles war so still.

Die Kolleg*innen, das Team auf den Stationen gaben ihr Bestes, um die fehlenden Besucher*innen, die fehlenden Aktivitäten, die fehlende Normalität zu kompensieren.

Einer jener Kolleg*innen fiel auf, dass Herr M nicht mehr am gemeinsamen Essen teilnehmen wollte.

Er zog sich in sich und in sein Zimmer zurück.

Nach einiger Zeit begann Herr M über Schmerzen im Rücken zu klagen. Der behandelnde Arzt vermutete, dass die Schmerzen von zu wenig Bewegung kommen könnten und riet zu einer Physiotherapie. Die Physiotherapeutin arbeitete regelmäßig mit Herrn M, aber seine Schmerzen veränderten sich nicht. Der zugezogene Arzt konnte nichts feststellen, das diese Schmerzen hätte auslösen können, alle Werte waren in Ordnung.

Immer weiter zog sich Herr M zurück, seine Kommunikation bestand hauptsächlich aus Wehklagen.

Nach einigen Tagen berichtete Lucia, eine der wenigen Kolleginnen, die Herr M noch tolerierte, bei der Mittagsübergabe, dass ihr aufgefallen ist, dass Herr M die Bilder seiner Töchter intensiv betrachte und ob es denn nicht möglich wäre, dass er einsam sei und seine Töchter vermisse? Dass dies vielleicht seinen Schmerz befeuere?

Mit einem Mal wurde uns klar, dass Herrn Ms Schmerz keinesfalls „nur“ körperlich sein konnte – er zeigte es uns eindeutig, wir konnten es aber nicht wahrnehmen.

Zu sehr waren wir damit beschäftigt, das Wegfallen der Aktivitäten, der Therapeut*innen, der Besucher*innen zu kompensieren und dabei zugleich unsere „eigentliche“ Arbeit auf der Station nicht zu vernachlässigen.

Jetzt aber war es klar und wir erkannten die Situation, in der sich Herr M befand:

Herr M vermisste seine Töchter, seine Familie. Er litt unter Einsamkeit.

Herr M vermisste das gemeinsame Feiern der Messe. Das Fehlen der Spiritualität bereitete ihm Schmerzen.

Die regelmäßigen Besuche und Spaziergänge mit unserer ehrenamtlichen Kollegin vermisste er auch, er litt an sozialem Schmerz.

Herr M erlebte, wieder, Total Pain. Was also konnten wir als Team für Herrn M tun?

Das Fehlen der geliebten Töchter konnten wir nicht kompensieren und uns auch nicht über das Besuchsverbot hinwegsetzen. Aber wir konnten und haben ein Tablet mit Skype Konto organisiert. Einer der berührendsten Momente meines bisherigen Arbeitslebens war jener, als Herr M und seine Töchter sich nach Wochen wieder gesehen haben, auch wenn es „nur“ online war.

Das Feiern der Messe wurde durch einen hauseigenen TV-Kanal möglich – Herr M und die Bewohner*innen versammelten sich vor dem großen TV-Gerät im Wohnzimmerbereich der Station und feierten, gemeinsam mit Kolleg*innen, die Messe zusammen.

Sowohl die Skype-Sitzungen als auch das gemeinsame Feiern der Messe fanden regelmäßig statt. Herr M blühte auf und sein Schmerz konnte sich verändern. Gänzlich verschwinden sollte er jedoch nicht mehr.

Im Sommer 2020 durften die Töchter wieder zu Besuch kommen, die Messe konnte im Garten stattfinden und auch die ehrenamtliche Kollegin kam immer wieder zu Besuch und saß mit Herrn M ein bisschen im Garten in der Sonne. Seine Demenz war mittlerweile fortgeschritten, er wirkte schwach, aber zufrieden.

Das letzte Mal sah ich Herrn M Ende Juli 2020, kurz bevor ich in Karenz ging. Er saß im Rollstuhl im Garten, eine seiner Töchter war bei ihm.

Im September ist Herr M im Beisein seiner beiden Töchter verstorben.

Herrn Ms Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie wichtig das Erkennen und Bearbeiten von Total Pain ist. Ganz generell, aber speziell in einer solch herausfordernden Zeit, in der wir jetzt leben.

Marianne Buchegger, BA MSc, Leiterin eines Tageszentrums für Senior*innen und Menschen mit einer Demenz der CS Caritas Socialis GmbH, derzeit in Karenz

Blogverantwortliche des Dachverband Hospiz Österreich

Fotoquelle: www.pexels.com