Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Ehrenamtliche Hospizbegleitung: Liebe und Mitgefühl kennen keine Maßeinheit

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Mein Blick schweift über die Weite der Mark Brandenburg. Ich brause mit dem ICE von Berlin zurück nach Innsbruck und nehme den tiefen Horizont am Ende der Wiesen und Felder als wohltuend wahr. So viel Raum, so viel Himmel bin ich nicht gewohnt. Die schönen Berge daheim verstellen gleichzeitig den Ausblick. Ich merke, wie wichtig es ist, gelegentlich den heimatlichen Horizont zu verlassen und sich auf mehr Weite und Austausch einzulassen. – In mir klingen die Referate und Begegnungen des Internationalen Symposiums „Das Ehrenamt in der Hospiz- und Palliativversorgung – Herausforderungen und Chancen 2030“ vom vergangenen Samstag, 25.5.2019 nach. Ich habe einzelne Sätze im Ohr – Englisch vermischt sich mit Deutsch – und ich merke: die Sprache ist nicht wichtig. Was nachhallt und hoffentlich bleibt, ist die Essenz der Botschaften. Sie ist jenseits aller Worte.

Beeindruckende Menschen durfte ich erleben:

M.R. Rajagopal aus Trivandrum, Kerala (Indien) gilt als der Urvater der Palliativbewegung auf dem Subkontinent, er ist Vorsitzender von Pallium India, Träger zahlreicher Preise und Auszeichnungen von Regierungen und NGOs. „Palliative Care brings growth of humanity in a society, and the essence of care is LOVE.“ LIEBE ist vielschichtig und nicht messbar, daher in der modernen westlichen Medizin keine Größe, über die gesprochen wird. „Let´s talk about love and compassion! Science and compassion together are needed for a better society.“ Dr. Rajagopal bringt konkrete Beispiele von sorgenden Gemeinschaften in Kerala, wo Begleitungen gelungen sind, wo die Verbindung von Herz und Hirn leidenden Menschen Linderung verschaffen konnte. Wir sehen Fotos von 40 RollstuhlfahrerInnen mit 160 Ehrenamtlichen am Strand, alle strecken die Füße ins Wasser und lachen. Das ist so ansteckend, dass die KongressteilnehmerInnen auch lächeln. Die Krankheit unserer westlichen „zivilisierten“ Welt, die zunehmend auch auf andere Kulturen überschwappt, heißt Einsamkeit – soziale Isolation verbunden mit emotionaler Kälte. Und hier sieht er uns Ehrenamtliche gefragt, gefordert und benötigt. Als Bindeglied zwischen den Familien (Microeinheiten) und den medizinischen Institutionen (Macroeinheiten). Bindeglieder verbinden: sozial, emotional, spirituell und physisch. Ganzheitlich.

Fatia Kiyange aus Uganda ist die Vorsitzende der African Palliative Care Association. Sie schildert uns Lebensumstände, die für ehrenamtlich Tätige in Europa nicht alltäglich, ja fast unvorstellbar sind: unglaublich große Distanzen bis zur nächsten ärztlichen Versorgungseinrichtung, keine Verkehrsmittel, PatientInnen ohne Nahrung, aber auch Ehrenamtliche in großer Armut, die trotzdem ihren Beitrag leisten wollen. Ihre Beobachtung: Je „westlich kultivierter“ eine Gesellschaft wird, desto geringer wird die Bereitschaft für ehrenamtliche Engagements. Hinzu kommt das in Afrika herrschende sozio-kulturelle Verständnis von Krankheit und ÄrztInnen: es gilt hier auch die HeilerInnen ins Boot zu holen.

Anja Schneider (BRD) stellt dem das Forschungsprojekt „Ehrenamtlichkeit und Bürgerschaftliches Engagement in der Hospizarbeit“ des dt. Hospiz- und Palliativverbandes entgegen: Am Ende zählt der Mensch! Das Ehrenamt stellt den KERN der Hospiztätigkeit dar. Hospizbegleitung ist gelebte Solidarität, sind Gespräche, Zeitgeschenke, Dasein und Aushalten. Palliative Care findet nun auch gesetzlich verankert in der Ausbildung von ÄrztInnen ihren Platz.

Nach der Mittagspause bittet mich Leena Pelttari aufs Podium, zusammen mit zwei Jugendlichen aus Ungarn, einer Studentin aus Polen und der Leiterin der Hospizbewegung in Zagreb. Leena fragt nach unseren Erfahrungen, was wir tun, wie sich unsere Hospiztätigkeit entwickelt hat, und was wir daraus beziehen dürfen. In unserer Vielfalt liegen Stärke und viele Möglichkeiten für die unterschiedlichen Bedürfnisse. Nicht nur die von uns besuchten Menschen profitieren. BegleiterInnen und Begleitete brauchen einander zum Menschwerden, nirgendwo ist diese Erfahrung unmittelbarer erlebbar als in bewussten Begegnungen. Ich freue mich sehr, dass ich da sein darf. Hier in Berlin und Da Sein bei meinen Einsätzen. Im Ansatz beginne ich zu erahnen, wie gut wir Ehrenamtliche in Österreich umsorgt und begleitet werden, damit unsere Begleitungen gelingen. Wir können wie Brunnenschalen arbeiten, in die Nährflüssigkeit geleitet wird und aus denen wir dann weiter schöpfen dürfen.

Der Nachmittag verfliegt für mich: der EAPC-Atlas wird von Carla Reigada aus Spanien präsentiert: es gibt nach wie vor einige Flecken auf der Landkarte Europas, die palliativ schlechter versorgt sind.

Leena Pelttari und Ros Scott stellen die EAPC Madrid Charta zum Ehrenamt vor und laden zum Unterzeichnen ein. Link zur Charta zum Unterzeichnen

Die Veranstaltung klingt aus mit einem World Cafe: Ich sitze an einem Tisch zusammen mit Mijodrag Bogicevic aus Serbien und einer Kollegin aus Göttingen. Wir sprechen über Ausbildungserfordernisse und -wünsche für Ehrenamtliche: 20 Stunden sind in Serbien vorgesehen. Wieder spüre ich, wie gut wir in Österreich unterstützt und gefördert sind. Dafür bin ich sehr dankbar.

Am späten Nachmittag strömen die TeilnehmerInnen hinaus. 320 waren angemeldet, davon zwei Drittel aus Deutschland. Im Foyer werden gerade die Poster abgebaut und mein Blick bleibt nochmals am Kunstprojekt von Candy Chang hängen: eine Wand, auf der PassantInnen als Graffito den Satz ergänzen können: Before I die … . Die Wand ist vollgekritzelt mit kleinen und großen Wünschen. Ich schreibe in Gedanken noch ein Wort dazu: Bevor ich sterbe, möchte ich l(i)eben. Hab schon damit angefangen, aber ein bisschen mehr geht immer.

Monika Niedermayr, ehrenamtliche Hospizbegleiterin in Innsbruck

Monika Niedermayr ist ao. Univ.-Prof.in Dr.in, lehrt am Institut für Zivilrecht an der Universität Innsbruck; Kursleiterin von „Letzte-Hilfe-Kursen“ und ehrenamtliche Hospizbegleiterin in der Tiroler Hospizgemeinschaft seit 2013