Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Die Krise als Lebenskonstante

veröffentlicht am

Abschied und Verlust aus suchtmedizinischer Perspektive*

Suchterkrankungen, das sei vorausgeschickt, sind kein einheitliches Erkrankungsbild, tatsächlich gibt es ganz unterschiedliche Erscheinungsformen: Die häufigsten Formen der substanzgebundenen Süchte in Österreich werden immer noch durch gesellschaftlich legitimierte Substanzen verursacht – nämlich Nikotin (24 Prozent der Bevölkerung) und Alkohol (5 Prozent). Während es auch beim Konsum dieser Substanzen zu gravierenden gesundheitlichen und psychosozialen Problemen kommen kann, führt doch gerade der weniger verbreitete risikoreiche Drogenkonsum unter Beteiligung von Opioiden (in ganz Österreich ca. 35 000 bis 38 000 Personen) vermehrt zum Verlust an der gesellschaftlichen Teilhabe und einer damit einhergehenden speziellen Konstellation an Lebensherausforderungen.

Menschen mit risikoreichem Drogenkonsum sind im Laufe ihres Lebens mit einer ganzen Reihe von Abschieden und Verlusten konfrontiert: Durch die Suchterkrankung kommt es in vielen Fällen zu einem Abbruch bisheriger Beziehungen, familiäre Kontakte und Unterstützungen dünnen sich aus, die Kontakte zu Freunden reduzieren sich auf ein Minimum.

Durch den Suchtdruck und die damit einhergehenden gesundheitlichen und rechtlichen Probleme kann es in der Folge zu einem Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes kommen. Es folgen Geldprobleme, der Verlust der eigenen Wohnung, nicht selten gefolgt von Obdachlosigkeit. Brüche mit der Herkunftsfamilie oder dem bisherigen Freundeskreis sind bei Suchtpatienten keine Seltenheit.

Auch bei Menschen mit einer Suchterkrankung gibt es Wege zurück in ein stabileres Leben, aber oft folgt eine Krise der nächsten.

So können die Themen Abschied, Verlust, Tod und Trauer eine wiederkehrende Konstante für Menschen mit Suchterkrankungen werden. In ihrer Betreuung hören wir daher immer wieder Geschichten von gehäuften Verlusten. Den dadurch entstehenden Gefühlen von Ohnmacht, Wut, Trauer und innerer Anspannung wird von den Betroffenen nicht selten wieder mit vermehrtem Substanzengebrauch begegnet.

Es ist nicht zu unterschätzen, wie sehr Abschiede und Verluste im Leben von Suchtkranken zur gesamten Destabilisierung beitragen können.

Die Themen Verlust und Abschied treten naturgemäß auch bei der Begleitung suchtkranker Menschen am Lebensende auf (Schreiber 2021). Dabei gilt es auch zu bedenken, dass unsere üblichen Idealvorstellungen von palliativer Begleitung und Betreuung oft zu kurz greifen. Hospizliche Versorgung im Allgemeinen wird oft mit Bildern des umsorgten, behüteten Abschieds assoziiert (Schneider 2016). Bei Menschen mit einer längeren Vorgeschichte von Suchterkrankung und Obdachlosigkeit müssen wir jedoch damit rechnen, dass diese Form des scheinbar „guten Sterbens“ nicht immer umsetzbar ist und manchmal auch nicht den Wünschen unserer PatientInnen entspricht.

Herr D., 64 Jahre, hat ein metastasierendes Lungenkarzinom und kommt in schon sehr schlechtem Allgemeinzustand in die Ambulanz. Er ist bereits seit Jahrzehnten opiatabhängig, relativ stabil substituiert und hat dennoch sein Leben lang in einem Zelt auf der Donauinsel in Wien gelebt. Durch das Fortschreiten der Erkrankung wird ihm diese Lebensart nun immer beschwerlicher und er wechselt in eine Notschlafstelle, wo er zumindest in der Nacht ein Dach über dem Kopf hat. Nach der anfänglichen palliativen Symptombetreuung von Schmerzen und Atemnot treten mit zunehmender Schwäche die Wünsche des Patienten für sein Lebensende in den Vordergrund. Da Herr D. keinesfalls in einem Spital versterben möchte, beginnt die Suche nach einer sicheren Bleibe für das Lebensende. Es gelingt, ein Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft zu organisieren.

Durchaus zuversichtlich zieht Herr D. dort ein. Doch nur wenige Tage später sucht er überraschend wieder bei der Notschlafstelle um einen Platz an. Er vermisse seine gewohnte Umgebung, die frische Luft. Nur mit Mühe gelingt es, den Patienten zu überzeugen, wieder in die in unseren Augen stabilere Unterkunft zurückzukehren, wo er nur wenige Wochen später verstirbt.

Insgesamt sollten wir in der Begleitung von Menschen mit Suchterkrankungen vor Augen haben, dass sich Krisen und Verluste wie ein roter Faden durch das Leben dieser Menschen ziehen können. Das Thematisieren solcher oft schmerzhaften Erlebnisse in gemeinsamen Gesprächen wird aus meiner Erfahrung von den Betroffenen durchaus begrüßt.

Es eröffnet die Möglichkeit, abseits der üblichen Stigmatisierung als „Drogenkranker“ als menschliche Person in ihrer Gesamtheit wahrgenommen zu werden.

Dr. Mag. Theresa Sellner-Pogány, Allgemeinmedizinerin und Palliativmedizinerin, ÖÄK Diplom für Psychotherapeutische Medizin (Systemische Richtung). Sie arbeitet in einer niederschwelligen suchtmedizinischen Einrichtung der Suchthilfe Wien

*Der Blogbeitrag ist eine, mit Zustimmung der Autorin, gekürzte Fassung ihres Beitrags im „Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer.“ 10.Jahrgang, 3, 2021.

Quellen:
Schneider, W. (2016). Riskantes Sterben – das Lebensende in der reflexiven Moderne. In: SuchtMagazin, 2.
Schreiber, W. (2021). Der „unheilbar erkrankte“ psychiatrische Patient. Eine palliative Haltung als wegweisende Zugangsform. In: Zeitschrift für Palliativmedizin, 22,1, S.35-40

Bildquelle: www.pexels.com