Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Design Thinking: Innovative Antworten auf komplexe Probleme finden

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EVERYTHING IS DESIGN.
EVERYTHING.

(Paul Rand)

Die Hospiz- und Palliativversorgung ist im Vergleich zu anderen „Disziplinen“ jung. Sie wurde in den 60ern entwickelt. Parallel dazu hat sich vor allem die Technik- und IT-Branche durch zahlreiche Innovationen ausgezeichnet, die wir in unserem Leben nicht missen möchten. Wie haben es diese Unternehmen geschafft, so innovative Konzepte und Ideen zu entwickeln, die von den Menschen gerne angenommen werden? Und was kann die Hospiz- und Palliativbewegung daraus lernen? Dazu hat sich Rainer Simader (RS), HOSPIZ ÖSTERREICH, mit Dorina Heller (DH) getroffen. Sie ist eine Expertin für die Methode Design Thinking, die für Produktentwicklungen verwendet wird.

RS: Frau Heller, was ist Design Thinking? 

DH: Design Thinking ist eine auf das Leben ausgerichtete Denkweise, um zielgerichtet innovative Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln und spürbare Veränderung zu bewirken. Ursprünglich wurde sie im Silicon Valley entwickelt, um Technikprodukte nutzer:innenfreundlicher zu machen. Heute wird Design Thinking weltweit in allen denkbaren Bereichen angewandt.

RS: Kann man denn eine Methode, die für Technik entwickelt wurde, wirklich für einen Bereich wie die Hospiz- und Palliativversorgung einsetzen?

DH: Da Design Thinking vor allem eine Herangehensweise, eine Haltung ist, sind die Anwendungsmöglichkeiten zahlreich. Auch in der Hospizarbeit spielt die Frage der Haltung seit Beginn neben Wissen und Fertigkeiten eine zentrale Rolle.

RS: Was könnten wir davon lernen?

DH: Es gibt meines Erachtens sechs zentrale Impulse aus dem Design Thinking, die auch auf den Hospizkontext übertragbar sind, wenn wir neue Ideen oder Angebote entwickeln wollen:

1. Zuerst das Problem
Allzu oft passiert es, dass wir schon Lösungsvorschläge haben, ohne das Problem richtig zu verstehen. Die Art und Weise, wie wir glauben, eine Situation als Problem zu identifizieren, ist schon Teil des Problems selbst. Was für mich ein Problem ist, muss für andere keines sein. Die Selbstreflexion der eigenen persönlichen oder fachlichen Sicht ist daher immer angesagt. Sich wirklich die Zeit zu nehmen, das Problem in all seinen Facetten zu erfassen heißt unter anderem: mit einer Haltung der Offenheit viel beobachten, mit den betroffenen Menschen sprechen, in den Austausch mit Institutionen oder Menschen treten, die ähnliche Herausforderungen haben, nicht zu voreiligen Schlüssen kommen und sich zudem stets der eigenen Annahmen, Vorurteile und Einschätzungen bewusst sein.

2. Dem Prozess vertrauen
Sobald man das Problem von allen Ecken und Seiten beleuchtet und den Lösungsfindungsprozess begonnen hat, befindet man sich auf einer Reise. In diesem Prozess entdeckt man, dass es das Problem nicht gibt. Es gibt unterschiedliche Konstellationen, die aufeinander wirken und miteinander verknüpft sind. Deshalb muss auch die Bearbeitung dieser Komplexität vieldimensional, interdisziplinär und aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen. Zwangsläufig gelangt man auf dieser Reise immer wieder an Weggabelungen und Punkte, die Unsicherheit, Frustration und das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein, auslösen. Wichtig ist, sich hier immer wieder gegenseitig im Vertrauen auf den Prozess zu stärken. Oft mag die nächste Wegetappe in Nebel gehüllt sein und kein Aussichtspunkt in Sicht. Wichtig ist, sich schrittweise voranzutasten und ein Stück weit auch einfach darauf zu vertrauen, dass der Prozess einen leitet. Eine transparente und verlässliche Kommunikation im Team sowie eine Haltung der (Selbst-)öffnung sind essenziell, um dieses Vertrauen zu entwickeln und stärken.

3. Gemeinsam Ideen weiterentwickeln
Bei der Ideenfindung werden keine Grenzen gesetzt. Ziel ist kreativ, spielerisch, mit viel Leichtigkeit in alle Richtungen zu denken und zunächst möglich viele Ideen zu produzieren. Nur eine Sache ist streng verboten: Im ersten Stadium der Ideenfindung, die Vorschläge und Gedanken der anderen zu kritisieren und abzuwerten. „Das geht nicht, das ist viel zu kompliziert…“, „Nette Idee, aber viel zu teuer…“, „Das können wir mit unseren Kapazitäten unmöglich schaffen…“ All diese, teils durchaus berechtigten Einwände werden bei der Ideenfindungsphase links liegen gelassen. Sie werden später behandelt. Aber nichts tötet Kreativität schneller als Pragmatismus. In diesem Stadium geht es darum, auf den Ideen der anderen aufzubauen. Also sich in der „Ja, UND…“-Haltung zu üben: „Ja, das klingt super und wir könnten auch noch…“ „Finde ich einen total guten Ansatz, außerdem könnten wir noch überlegen, dass wir…“

PRAKTISCHE TEAMÜBUNG
Kontext: eine Aufgabe im eigenen Arbeitsbereich, die es zu lösen gilt. Zum Beispiel die Planung einer Veranstaltung zur Gewinnung von Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit.

eine Person schreibt die Ideen jeweils mit
eine Person behält die Zeit im Blick

1. Schritt (ca. 5 Minuten):
Eine offene Brainstorming-Runde, alle Vorschläge werden nur auf ihre Schwachstellen geprüft, alle bringen ihre Einwände ein

2. Schritt (ca. 5 Minuten):
Jeder Vorschlag wird zunächst freudig aufgenommen und weitergedacht. Auch die vielleicht schwer umsetzbaren Ideen, werden von den Beteiligten weiterentwickelt – alles ist erlaubt, es gibt keine Grenzen!

3. Schritt (ca. 5 Minuten) Reflexion:
Was war jeweils der Stand der Veranstaltungsplanung nach Schritt 1 und 2? Wie ging es den Beteiligten bei Schritt 1 und 2, was war anders?

4. Prototypen entwickeln = schnell & effizient lernen
Ein essenzieller Schritt im Design Thinking ist das Bauen eines „Prototyps“. Dieser muss „testbar“ sein, also z.B. nicht nur ein schriftliches Konzept. Wenn die Ausgangsherausforderung die Gewinnung von Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit ist, könnte ein Prototyp etwa ein innovatives Veranstaltungsformat sein oder ein neuer Kommunikationskanal (Newsletter, Website, Instagram Account…). Der Prototyp muss zudem die Kernfunktion erfüllen, also die Hauptfunktion, für die er gemacht ist. Ein Hammer muss sich dazu eignen, Nägel einzuschlagen. Vielleicht hat er zusätzlich noch eine eingebaute Taschenlampe, ein ausklappbares Maßband oder eine Wasserwaage – gut und schön. Aber vor allem anderen muss er hämmern können. Prototypen können mit den verschiedensten Methoden entwickelt werden – je nach Möglichkeiten und Anwendungsfeld. Egal ob Moodboards, Videos, Websiteentwürfe, tatsächliche Modelle aus Lego & Co, uvm. – wichtig ist, dass der Prototyp konkret, erfahrbar und testbar ist.

5. Testen, testen, testen
Sobald ein Prototyp vorliegt, geht es ans Testen! Dabei zählt nicht Perfektion, sondern Funktion. Oft ist es wichtiger, überhaupt etwas zu tun, als es (gleich) richtig zu tun. Fehler sind ein wichtiges Feedback, sie zeigen uns, dass wir hier nochmal hinsehen sollten und es noch Luft nach oben gibt. Beim Testen ist es wichtig, mit der richtigen Zielgruppe zu testen, deren Bedürfnisse ohnehin den ganzen Prozess hindurch Leitstern sein sollten. Außerdem sollten mehrere Testrunden eingeplant werden und dazwischen Zeit, um das Feedback der Testpersonen gleich aufzugreifen und in den Prototyp einfließen zu lassen. Wenn z.B. ein neuer Kommunikationskanal entwickelt werden soll, könnte man einen Rohentwurf mit der Zielgruppe testen, indem diese sich durch den Websiteentwurf navigieren müssen oder den Instagram Account aus Nutzer:innenperspektive erfahren und Feedback geben. Beim Testen gibt es verschiedene Methoden und Ansätze, die je nach Kontext und Zielsetzung variieren. Um das am besten geeignete Testformat zu identifizieren und umzusetzen, kann es hilfreich sein, externe Expertise hinzuzuziehen.

6. Konstante Iteration: Man ist nie fertig
Und wenn Ideenfindung, Prototyp erstellen und Testphase abgeschlossen sind, was dann? Dann kommt die Iteration, also die Anpassung, die Überarbeitung, Aktualisierung des Entstandenen. Man ist nie „fertig“ – wie im Leben selbst. Die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen erfordern, dass wir immer wieder nachjustieren, Altes bei Bedarf über Bord werfen und Neues willkommen heißen.

Dorina Heller, BA MA ist ausgebildet in angewandtem Design Thinking, systemische Coachin und Beraterin (Studien in Oxford, Peking, London, Heidelberg und Potsdam) und bietet Organisationen, Teams und Einzelpersonen auf deren Bedürfnisse individuell abgestimmte Trainings und Workshops zu Design Thinking an.
Bild: pexels