Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Alt werden in fremdem Land

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Herr O. kommt mit seiner Frau zu einem Beratungsgespräch ins Tageszentrum. Beim Vorabtelefonat hat Frau O. berichtet, dass ihr Mann nach einem langen Krankenhausaufenthalt aufgrund seiner Multimorbidität und Delir nun stark unter seiner eingeschränkten Mobilität, der Einsamkeit und zunehmender Isolation leidet. Ihre Hoffnung ist, dass Gemeinschaft und Gesellschaft im stützenden Rahmen des Tageszentrums Herrn O. guttun und seine Depression lindern.

Am Tag des Beratungsgesprächs ist Herr O. neugierig, aber auch zweifelnd, ob ‚die Leute, die hierherkommen‘ ihn verstehen.

„Wissen Sie, in Ägypten sagen wir, wenn wir von der Zukunft sprechen, ‚Um die Zukunft zu sehen, musst Du auf Dein Leben zurückblicken‘. So sehen wir den Reichtum unseres Lebens, was wir geschafft haben, und ‚erheben uns‘ dadurch in die Höhe. Hier in Österreich muss man nach vorne blicken, um die Zukunft zu sehen.“

Wann sind Sie nach Österreich gekommen?

„Das war in den siebziger Jahren. Ich kam nach erfolgreicher Aufnahmsprüfung an der Musikhochschule in Wien mit dem Ziel nach Österreich, mich mit meinem Lieblingsinstrument als Sologeiger weiterzuentwickeln, nachdem ich meine Ausbildung am Konservatorium in Kairo beendet hatte. Dann hatte ich ein Engagement für den Operettensommer in Bad Ischl. Hier lernte ich meine jetzige Frau kennen – mittlerweile sind wir verheiratet und haben 4 erwachsene Kinder.“

Was hat Sie damals dazu bewogen, von Ägypten nach Österreich zu kommen?

„Ich bin Geiger, ich liebe die Musik. Brahms, Mozart, Beethoven, Verdi und wie sie alle heißen. Ich habe mich in Ägypten zunehmend als Außenseiter gefühlt, ich war ein Exot, die Menschen wussten nicht, was sie mit mir und meiner Musik anfangen sollten. Klassische, europäische Musik klingt sehr fremd und unangenehm für viele meiner Landsleute. Also bin ich nach Österreich gekommen, das Land, in dem ‚meine‘ Musik so hochgehalten wird. Ich wollte spielen und berühmt werden, in einer Reihe mit den Großen stehen. Ich habe auch tatsächlich schnell Engagements erhalten, war aber einer von vielen Musikern.  Die Konkurrenz war groß und häufig spielte mein Äußereres, mein südländisches Aussehen eine Rolle – und nicht mein Können. Somit wurde ich hier kein bekannter Musiker (so wie ich es davor in Kairo gewesen war), sondern fühlte mich fremd und zu wenig anerkannt. Die Leute dachten immer, ich wäre ein Tourist. In jedem Orchester stach ich heraus. Meine Haare, wissen Sie, die sind gar nicht österreichisch.“ Er lacht und zeigt auf sein dichtes, schwarzes Haar. „Ich habe mir zunehmend gesagt, das Wichtigste ist, dass ich Engagements habe, nicht, dass ich der Größte werde. Aber eigentlich war es dann so, dass ich in Ägypten ein Fremder war und in Österreich auch.“

Wie erleben Sie das Altern ‚in fremdem Land‘?

„Das ist eine gute Frage. Ich bin im Ruhestand, jetzt habe ich mehr Zeit, um nachzudenken. In Ägypten wäre ich jetzt der Familienoberste – ich wäre ein ‚Scheich‘.“ (Anm. der Autorin: ‚Scheich m./Scheicha w.‘ ist ein arabischer Ehrentitel, der seit vorislamischer Zeit Personen von Rang und Namen verliehen wird. Er bedeutet ‚Person, deren Alter fortgeschritten und deren Haar weiß geworden ist‘). „Alle würden mich achten und zu mir kommen, meinen Rat erbitten. Ich wäre wichtig für die Familie und das Haus. Hier aber bin ich nur ein alter, kranker Mann. Ich habe den Eindruck, dass ich keinem mehr wichtig bin, und das Gefühl, dass ich meinen Kindern – sie sind erwachsen und alle sehr beschäftigt – hinterherlaufen muss, wenn ich sie sehen will. Meine Frau ist noch berufstätig und hat auch sehr wenig Zeit.

Hier in Österreich sehe ich viele alte Leute, die gebückt sind und nicht mehr am Leben teilnehmen. Keiner lacht. In Ägypten lachen wir viel. Wir sagen ‚Nichts ist schlimmer als ein schlechter Witz‘. Damit ist gemeint, dass das Leben und alle Herausforderungen mit Humor besser zu bewältigen sind. Auch die Einsamkeit ist eine Belastung für mich. Ich möchte mich unterhalten, ich will mein Wissen teilen. Ich bin jetzt in der Lebensphase angekommen, in der ich niemandem mehr etwas beweisen muss. Meine Aufgabe ist nun die Weitergabe meines Wissens. Aber wen interessiert das hier?“

Was fehlt Ihnen?

„Das Lachen der Ägypter fehlt mir. Und meine Familie in Ägypten, die sind aber alle schon lange verstorben. Die Einsamkeit mag ich gar nicht. Seit es mir gesundheitlich schlechter geht und ich auch nicht mehr so mobil bin, werden die Menschen, die mit mir in Kontakt sind, immer weniger. Über Facebook habe ich Kontakt zu alten Freunden in Ägypten. Wenn ich ihnen erzählen würde, wie es mir geht, würden sie sagen: ‚Wir kommen sofort!‘, aber ich erzähle es ihnen nicht. Als Mann muss ich stark sein.“

Welche Ressourcen haben Sie? Was stärkt Sie, was hilft Ihnen?

„Meine aktuelle Lebensphase ist nicht leicht für mich, aber ich habe einen starken Glauben und die Hoffnung, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird. Auch meine Frau und meine vier Kinder stärken mich. Und meine Geige, sie ist wie meine zweite Frau … Ich lese und schreibe viel, denke viel nach. Ich denke, wenn man viel liest, schreibt man auch gut.“ Herr O. lächelt.

„Ich habe begonnen, meine Lebensgeschichte auf Arabisch zu schreiben.  Damit sie hier jemand versteht, muss das übersetzt werden. Das kann ich aber nicht mehr. Einer meiner Söhne macht das nun für mich. Das ist schön für mich, so habe ich das Gefühl, doch noch ein bisschen etwas weiterzugeben.“

Das Gespräch führte Marianne Buchegger, Leiterin eines Tageszentrums der CS Caritas Socialis GmbH

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