Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Elementare Gesten Sorgender Gemeinschaften

veröffentlicht am

Von der Alltagssolidarität bis zum politischen Rahmen

Patrick Schuchter und Klaus Wegleitner

Die Care-Geste im Alltag

In ihrem Roman Die langen Abende erzählt Elizabeth Strout die Episode von Olive und Cindy. Olive, eine als etwas forsche Person beschriebene, pensionierte Lehrerin, die am Ende des Romans in ein Pflegeheim einziehen wird, trifft auf Cindy. Cindy ist eine Frau mittleren Alters, eine ehemalige Schülerin der damals gefürchteten Lehrerin Olive. Sie lebt mit ihrem Mann Tom in einem kleinen Haus einer amerikanischen Kleinstadt. Cindy ist an Krebs erkrankt. Die Episode beginnt damit, dass Cindy sich, schwer beeinträchtigt von den Nebenwirkungen der Chemotherapie, aus dem Haus in den Supermarkt schleppt, um einzukaufen. Vor dem Kühlregal kommt es zu folgender Episode: Cindy müht sich sichtlich die Dinge aus den Regalen zu holen. Dann heißt es: „Von hinten streckte sich eine große ältliche Hand nach dem Stück Butter aus, das Cindy hatte greifen wollen, und beförderte es in ihren Wagen“ (144) Cindy und ihre ehemalige Lehrerin erkennen einander wieder, ohne dass sich die beiden ausdrücklich zu erkennen geben. Sie hatten einander seit Jahren oder Jahrzehnten nicht gesehen. Cindy bedankt sich und dabei bleibt es zunächst.

Am Beginn: Herz, Mut und Gegenseitigkeit

Die Episode geht so weiter, dass sich Olive – existentiell berührt von der Begegnung mit der sichtlich erkrankten Cindy – gewissermaßen ein Herz nimmt. Sie fasst den Mut, aus dem eigenen Alltag herauszutreten und auf Cindy zuzugehen, wobei ihre forsche und bestimmende Art ihr hier sicher zugutekommt. Sie sucht Cindy einfach zuhause auf und sagt dann von ihr darauf angesprochen: “Ich dachte mir, wenn ich vorher anrufe, dann sagen Sie wahrscheinlich, ich soll nicht kommen […] Und dann dachte ich, ich pfeif drauf, ich fahr da jetzt hin und schau nach dem Mädel.” (152) Es entwickelt sich ein „großartiges Gespräch“, indem zunächst Cindy sich öffnen kann. Sie beschreibt ihre Scham und Einsamkeit: “… wie die Leute mich anschauen. Ich mag nicht mehr rausgehen …”. Aber diese Einsamkeit ist tiefer. Von der Beziehung zu ihrem Mann Tom sagt sie: “Olive, er redet ständig so, als würde mir gar nichts fehlen.” Und schließlich: “… so einsam, o Gott, ich fühle mich so einsam”. Im weiteren Gespräch kommen die beiden Frauen einander näher und es ist nicht so, dass Olive die gütige Zuhörerin und Cindy bloß die „Betroffene“ wäre, der netterweise ein Ohr geliehen wird. Olive erzählt genauso vom Verlust ihres Mannes, ihrer eigenen Lebenslage, ihrer zweiten Ehe. Es entspinnt sich ein Gespräch zu den großen Lebensthemen: Über die Liebe, über das Scheitern im Leben, über das, was man bereut und anderes mehr.

Welche Care Gesten und Bedingungen von Sorgekultur lassen sich herauslesen?

Wir können aus dieser kurzen Episode so etwas wie die elementaren Gesten Sorgender Gemeinschaften herauslesen – allerdings müssen wir diese Eigenschaften auch etwas verallgemeinern und auch auf Organisationen, Institutionen, die Politik übertragen, denn sonst verbleibt das Bild der „Sorgenden Gemeinschaften“ (was der Begriff sicher auch nahelegt) auf der Ebene des nachbarschaftlich-informellen, zivilgesellschaftlichen Zusammenhalts. Denn: Sorgende Gemeinschaften brauchen immer beides, Alltagssolidarität und Care(Arbeit) ermöglichende strukturell-politische Bedingungen. Was sind aber nun jene wesentlichen Elemente, die wir in der Episode finden können?

Der „dritte Sozialraum“ als Lebens- und Sorgeort

Cindy und Olive sind weder verwandtschaftlich noch freundschaftlich verbunden. Auch gehört Olive natürlich keiner privatwirtschaftlich oder staatlich organisierten Hilfsorganisation an, sie sind einander zwar nicht völlig unbekannt, aber nach 15, 20 Jahren „halbbekannt“. Die kleine Geste des Helfens geschieht im Supermarkt, also außerhalb des privat-häuslichen Bereichs und außerhalb einer Einrichtung des Gesundheits- und Sozialsystems, sondern im sogenannten „Dritten Sozialraum“ (Klaus Dörner). Das führt zu einer ersten Charakteristik einer Sorgenden Gemeinschaft, die nach zwei Richtungen blickt; der alltagspraktischen Organisation von Care und der Kultur des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.

Sorgende Gemeinschaften werden also von der Einsicht getragen, dass ein gutes, am gesellschaftlichen Leben weiter teilnehmendes Leben, wenn man der Sorge bedürftig wird, sich weder allein durch organisierte Hilfsorganisationen noch durch ausschließlich (in einem weiten Sinn) familiäre Care-Arbeit bzw. in deren Zusammenspiel „herstellen“ lassen. Es bedarf einer lebendigen Achtsamkeit, Präsenz und Kultur der Sorge im „dritten Sozialraum“, wo einander Un- und Halbbekannte begegnen und beispringen. Sorgende Gemeinschaften sind nicht einfach nur Sorgenetze, sondern haben eine Bedeutung für die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts.“.

Beispringende Sorge und Hilfe annehmen im Alltag

Man wird vielleicht fragen: Etwas aus dem Regal reichen – das ist doch selbstverständlich und nichts Besonderes! Die Antwort kann nur lauten: Natürlich! Es wäre ja dramatisch, wenn einfache Handlungen beispringender Sorge als „heroische“ Akte wahrgenommen würden. Tägliche Sorge für Erhalt und Reparatur des Körpers, des seelischen Befindens, der Beziehungen – das ist ja sogar das „Alleralltäglichste“. Eben so alltäglich, dass es übersehen und übersprungen wird. Es ist selbstverständlich – und doch besonders und verdient deshalb Aufmerksamkeit und gemeinsame, bewusste „Kultivierung“. Allerdings wird in einem Punkt Olives Sorge schon auch ein wenig „heroischer“: Sie ruft nämlich nicht vorher an, ob sie vorbei kommen soll oder nicht. Die Frage, wie wir Hilfe annehmen können und umgekehrt nicht beschämend anbieten können, ist eine soziale Schlüsselfrage, die nicht nur eine große Hürde darstellt, sondern an das Menschenbild in der Moderne rührt („Ich muss alles selbst leisten, sonst bin ich nicht nützlich“).

Strukturell-politische Care-Bedingungen schaffen

Nun müssen wir die Elementargeste auf der Ebene der personalen Beziehung noch übersetzen ins Institutionelle und auf die Ebene der Organisationen. Dieses Überschreiten des „Eigenen“ ins lokale Allgemeine kann nicht den Privatpersonen, den informellen Beziehungen und zivilgesellschaftlichem Engagement überlassen bleiben. In Sorgenden Gemeinschaften wird die das „Eigene“ überschreitende Geste auch von Organisationen und Organen vollzogen. Das kann sich auf vielerlei Weisen äußern. Der Sinn ist immer, dass der dritte Sozialraum belebt wird, nicht nur zum Zwecke Hilfenetzwerke zu vervollständigen, sondern eben auch um des Zusammenhalts und der Qualität des Zusammenlebens willen. So beleben Organisationen, Vereine, Institutionen den dritten Sozialraum beispielsweise, indem ein Unternehmen der Gemeinde eine Initiative für Mitarbeiter:innen mit Pflegeverantwortung („Working Carers“) mit anderen vernetzt; indem  ein Verein mit Mitgliedern, die nicht mehr „dabei sein“ können (wegen Krankheit oder Alter oder …), doch noch Kontakt hält und ihnen Teilhabe ermöglicht; indem eine Schule regelmäßig das Pflegeheim besucht und Alt und Jung voneinander lernen; indem die Gemeindeverwaltung für Senior:innen und hochaltrige Menschen eine Sozialraumbegehung ermöglicht, bei der entdeckt wird, dass alte Menschen viel mehr rausgehen würden, wenn an einem bestimmten Ort eine Toilette oder ein Sitzbankerl stehen würde; indem die örtliche Kunstgalerie Führungen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen entwickelt; weil die Bezirksverwaltung Ressourcen zur Verfügung stellt für Nachbarschaftsfeste, bei denen „Einheimische“ und „Fremde“ zusammen kochen, essen, reden und feiern können. Beispiele gibt es genug, aber nicht in Rezeptform. Es ist immer das nicht universalisierbare lokale Wissen von Menschen und Organisationen, das es braucht und das jetzt schon besonders und kostbar ist.

Zuhören und voneinander Lernen als politischer Akt: Für eine Caring Society

Aufmerksamkeit verdient nicht zuletzt, dass sich zwischen den beiden Frauen ein tiefes Gespräch in menschlichem Kontakt entspinnt. Eben nicht nur eine Plauderei, sondern ein leichtes, heiteres – vor allem aber tiefgründiges Gespräch, auch über die Ungerechtigkeiten des Lebens. Es ist gerade nicht die Pflegeperson (die kommt auch, aber sie ist mit der ambulanten Chemotherapie und der Symptomkontrolle beschäftigt und hat darüber hinaus nicht allzu viel Zeit), aber es ist auch nicht die eigene Familie (der Mann Tom tut sich selbst schwer und die beiden schaffen das Gespräch nicht recht), – sondern die Halbbekannte aus dem „Dritten Sozialraum“, die mit einer scheinbar kleinen Geste etwas Größeres in Gang bringt. Unter anderem sorgt sie dafür, dass Cindy nicht nur Patientin (wie für die Pflegeorganisation und den Staat – natürlich nicht „nur“, aber hauptsächlich) und nicht nur jetzt kranke Partnerin (für Tom), sondern auch Bürgerin der lokalen Community und der Gesellschaft bleibt. Die besprochenen Lebensfragen bekommen eine kleine, weitere Öffentlichkeit. Sorge-Themen, die Themen des Lebens und Sterbens in kleinen und größeren Öffentlichkeiten zu thematisieren, das hat nicht nur „therapeutischen“ Sinn (Austausch tut gut), sondern auch einen „politischen“.

Was lässt sich daraus verallgemeinerbar für das Verständnis sorgender Gemeinschafen und ihren Beitrag zu einer Caring Society ableiten? Eine Caring Society (Joan Tronto) braucht in ganz vielfältiger Weise Orte und Räume, in denen existentielle und universelle Erfahrungen geteilt werden, wo Menschen vom Leben Anderer lernen können. Räume, die ermöglichen, dass man – halbvertraut, halbfremd – über die Ausdifferenzierung in Lebens- und Arbeitswelten, über Rollen und soziale Unterschiede hinweg ins Gespräch kommt, darüber, was im Leben zählt, was Sorgen macht, was Hoffnung gibt, was ein gutes Leben und Sterben ausmacht im eigenen Stadtteil, im Grätzl. Möglichkeiten schaffen, in einem tieferen Sinn aneinander Anteil nehmen zu können („Compassion“), von der vertrauensvollen Plauderei bis hin zu von Organisationen, der Politik, der Wissenschaft eröffneten Räumen (Philosophische Cafés, Bürger:innenforen, Achtsames Achterl im ACHTSAMEN 8., usw.) und voneinander zu lernen, wirkt eben nicht „nur“ auf der Ebene „heilsamer“ persönlicher Begegnungen, sondern aktiviert auch das politische Moment der Veränderung. Denn Im Sich-hineinversetzen-können in die Lebens- und Sorgesituation anderer Menschen keimt der Wille zur Veränderung und Entscheidung. Eine Entscheidungsgemeinschaft setzt nämlich zunächst eine Empathiegemeinschaft voraus (Fischer et al. 2012).

Grundlegend für unser Bild von Caring Communities ist, dass sie eben nicht care-funktionalisiert und pflege-fokussiert gelesen, sondern in ihrer tiefen Verankerung in den Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens und sozialen Zusammenhalts verstanden werden. Ganz im Sinne der Beziehung von Cindy und Olive geht es demnach auch um die Frage, wie es dem professionellen Helfer:innensystem gelingen kann Menschen nicht in Zielgruppen wahrzunehmen, sondern als Bürger:innen, deren Wohlbefinden, deren Gesundheit, deren gutes Leben bis zuletzt von so viel mehr abhängt als von einer isolierten „Hilfe- und Versorgungsleistung“ oder der Optimierung von bestimmten Organisations- oder Netzwerkprozessen. Dazu braucht es auf persönlicher Ebene und in Care-Organisationen über die Routinen des Lebens und der Arbeitsabläufe hinausgehende „Großzügigkeiten“, eine Kultur des Gebens, die nicht kapitalistischen Marktlogiken folgt, sondern gemeinwohlorientierten Bildern gesellschaftlichen Zusammenlebens. Damit geht keineswegs die Entpflichtung des Staates in der Finanzierung und Organisation von Care einher. Ganz im Gegenteil wirft es noch viel stärker die Frage auf: „Was ist hier die Rolle und Verantwortung des Staates? Wie sehen angemessene Finanzierungsformen in allen Care-Kontexten aus?“

Literatur:
Fischer, Roland (2012). Entscheidungsgesellschaft, Bildung und kollektives Bewusstsein. Fischer, R./Greiner, U./Bastel, H. (Hg.): Domänen fächerorientierter Bildung. Linz: Trauner.
Tronto, Joan C. (2013). Caring democracy. Markets, equality, and justice. New York, New York Univ. Press.

Dr. Patrick Schuchter, MPH ist Philosoph, Krankenpfleger und Gesundheitswissenschaftler. Er leitet den Bereich Hospiz, Palliative Care und Demenz im Kardinal König Haus in Wien und lehrt und forscht am Zentrum für Interdisziplinäre Alters- und Care-Forschung (CIRAC) an der Universität Graz

Assoz. Univ. Prof. Dr. Klaus Wegleitner ist Soziologe und Sorgeforscher an der Abteilung Public Care des Instituts für Pastoraltheologie und -psychologie sowie stellvertretender Leiter am Zentrum für Interdisziplinäre Alters- und Care-Forschung (CIRAC) an der Universität Graz. Er ist Vorstand des Verein Sorgenetz www.sorgenetz.at, Wien

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