Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Ein, zwei, viele Ichs? Ich in und nach dem Dienst

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Marianne Buchegger im Gespräch mit Yvonne Schröckenfuchs

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Diese Frage stellt sich nicht nur Richard David Precht in seinem gleichnamigen Buch, sondern auch ich stelle sie – in leicht abgewandelter Form – Yvonne Schröckenfuchs: „Gibt es ein Ich, wenn Du im Dienst bist und ein anderes Ich, wenn Du außer Dienst bist?“

Wir treffen uns online zu einem Gespräch darüber, ob es diese unterschiedlichen Ichs in ihr gibt und wenn ja, wie diese Ichs bei Yvonne aussehen.

Ich steige in das Gespräch direkt mit der „Hauptfrage“ ein und Yvonne überrascht mich mit ihrer Antwort. „Nein, es gibt kein zweites Ich. Für mich geht es immer zuerst um die Begegnung, darum den anderen kennen zu lernen, seine oder ihre Einzigartigkeit zu erkennen. Ich bin immer Yvonne, dieselbe im Dienst und nach dem Dienst.“

Etwas ungläubig frage ich nach, vor allem will ich von ihr wissen, wie sie die „professionelle Distanz“ schafft? Wie kann das klappen, ohne ein Stück weit „anders“ – im Sinne von „professionell“ – zu sein? Die nächste Überraschung folgt, als Yvonne kontert: „Mit diesem Terminus „professionelle Distanz“ habe ich schon immer meine Schwierigkeiten gehabt. Ich lebe das nicht. Ich erlebe keine professionelle Distanz. Denn sobald ich auf Distanz gehe, kann ich nicht mehr so nahe am Menschen sein, wie es notwendig ist. Es ist wichtig für mich, sehr bewusst in der Situation bei den Menschen, die ich betreue, zu sein.“ Ich bemerke, dass wir beide vom Gleichen sprechen, aber es verschieden benennen. Ich versuche es noch einmal und frage nach, wie sie es schafft, die Geschichten und Atmosphären, die sie bei den Patient:innen zu Hause erlebt, dort zu lassen und nicht mit nach Hause zu bringen. „Weißt Du, ich versuche bewusst da zu sein, mich zu zentrieren und dann wieder bewusst zu gehen und nicht alles mitzunehmen. Der Atem ist eine Hilfe dabei, aber auch das bewusste Wahrnehmen der Natur, auch mal zu weinen oder zu beten, … Ganz wichtig für mich ist außerdem, zu wissen, dass unsere Patient:innen von meinen Kolleg:innen und dem gesamten Team gut und umfassend betreut werden. Ich habe Vertrauen in die Kompetenzen unseres Teams, ich habe gelernt, dass ich nicht die einzige Verantwortliche für alles und jeden bin.“ Diesen Satz erkenne ich wieder – erinnern Sie sich an frühere Blogbeiträge? Viele unserer Interviewpartner:innen haben dasselbe gesagt. Es braucht unbedingt ein Team, das die Patient:innen gemeinsam betreut. „Richtig“, stimmt Yvonne zu „aber ich musste auch erst begreifen, dass ich nicht immer für alles verantwortlich bin. Ich musste lernen, abzugeben. Nur so kann es mir gelingen, mich ganz auf die Patienti:nnenbegegnungen einzulassen und dann auch gut wieder aus den Situationen herausgehen zu können, immer mit der Gewissheit nicht alles allein tragen zu müssen.“

Ist es vielleicht auch das Gemeinsame, die Arbeit in einem guten Team, die „professionelle Distanz“ nicht so notwendig macht, möchte ich wissen? Yvonne denkt kurz nach und sagt dann „Professionelle Distanz ist für mich, bei den zu Pflegenden ganz da zu sein, ihnen als Mensch zu begegnen und dann wieder bewusst zu gehen.“

Yvonne beschreibt „Dieses Wir, das Team gemeinsam mit den betreuten Menschen und ihren An- und Zugehörigen, und das Vertrauen in das Können der Kolleg:innen, das Vertrauen in die Selbstverantwortung und Ressourcen der Menschen, die wir begleiten und betreuen, kann beides ermöglichen: Zum einen das Einlassen auf die Patient:innen und deren Lebenssituationen, zum anderen – mit der Sicherheit, dass die Pflege und Betreuung gut weiter gehen wird – auch wieder gut aus den Situationen heraus gehen zu können.“

Sie macht eine kurze Pause und sagt dann „Das Ich in und nach dem Dienst ist dasselbe Ich. Es ist ein Ich, das lernt, wächst und Erfahrungen reflektiert. Es ist ein Ich, das am besten im Wir funktioniert.“

Yvonne Schröckenfuchs ist Palliativbeauftragte in der Hauskrankenpflege der Caritas Wien, sie ist diplomierte Krankenpflegerin und akademische Expertin für Palliative Care

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