Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Wenn sich das Leben ver-rückt: Erfahrungen einer Palliativpsychologin

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Viktoria Wentseis, 41, ist als Klinische Psychologin, Notfallpsychologin und Psychoonkologin im Universitätsklinikum Tulln und in eigener Praxis tätig. Sie ist designierte Leiterin der neuen Arbeitsgruppe Palliativpsychologie/-psychotherapie der OPG. Die Begleitung von Menschen, die an lebenslimitierenden Erkrankungen leiden, ist ihr eine Herzensangelegenheit. Dabei sei jede einzelne Begegnung für sie genauso lehrreich wie es persönliche Erfahrungen durch den Verlust von Menschen waren. Im Folgenden ermöglicht sie uns einen ebenso persönlichen wie fachlichen Einblick in die Welt der Palliativpsychologie.

Sie haben Psychologie an der Universität Wien studiert und im Anschluss daran im psychiatrischen Bereich gearbeitet. Als Ihr Herzensgebiet beschreiben Sie aber schon immer die Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen – können Sie uns beschreiben, wie es dazu kam?

Möglicherweise liegt dies unter anderem an einem sehr natürlichen Zugang zu diesen Themen, den ich schon in jungen Jahren entwickeln durfte. Ich bin – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt – in einem kleinen Dorf am Land als Teil einer großen Familie aufgewachsen. Der Tod war dadurch für mich immer präsent und aufgrund von Ritualen erschien er auch bewältigbar. Wenn bei uns im Dorf jemand gestorben ist, haben sich die Frauen des Ortes versammelt, um den Verstorbenen zu waschen und die Familie zu begleiten. Ich durfte noch erleben, wie Verstorbene zu Hause aufgebahrt werden und Kinder nicht ferngehalten wurden. Vor allem die Tage zwischen dem Versterben und dem Begräbnis waren von festen Ritualen geprägt, das gab Sicherheit in einer unsicheren Zeit. Jeder wusste was zu tun war. Auf meinem ersten Begräbnis war ich drei Jahre alt, ich wurde einfach mitgenommen. Danach folgten Verluste im Abstand von zwei bis drei Jahren. Das Leben war dabei sehr gnädig zu mir, und zwar in dem Sinne, dass es mir liebe Menschen meist in der „richtigen Reihenfolge“ nahm. Meine Mutter war zudem Hebamme und hat sich schon sehr früh der Begleitung von Familien nach einer Fehl- oder Totgeburt gewidmet, ebenfalls Tabuthemen. Dies alles ermöglichte mir die tiefe Erfahrung, dass der Tod zum Leben gehört und man mit Sterben, Tod und Trauer umgehen kann – vor allem dann, wenn man damit nicht allein ist, mit seinen Gefühlen in Kontakt kommen darf und darüber gesprochen werden kann.

Das sind zutiefst persönliche Erfahrungen, die Sie hier als prägend beschreiben und die man vermutlich nicht durch eine Ausbildung erwerben kann. Welche Bedeutung hat das Studium der Psychologie für Sie in diesem Zusammenhang?

Ich kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, dass die Themen Sterben, Tod und Trauer in meinem Studium explizit Platz fanden. Erst vor kurzem habe ich mal aus Interesse in psychologischen Lehrbüchern, die sich mit dem Thema Alter beschäftigen, diese Begriffe nachgeschlagen und war tatsächlich schockiert, über diese existentiellen Themen kaum etwas zu finden. Möglicherweise hat sich dies in der Zwischenzeit geändert, mein Studium ist ja doch schon einige Jahre her. Im Austausch mit Kolleg*innen stelle ich aber immer wieder fest, dass diese Themen, vor allem wenn es um unmittelbar bevorstehendes Sterben geht, für Viele eine Herausforderung darstellen. Neben der eigenen Betroffenheit, der sich in dieser Auseinandersetzung niemand entziehen kann, hat dies unter Umständen auch damit zu tun, dass ein Schwerpunkt in der klinisch-psychologischen Ausbildung im Diagnostizieren und Behandeln von psychischen Störungen liegt. Das Worst Case Szenario besteht im Suizid, den es um jeden Preis zu verhindern gilt. Diese Sozialisierung führt mitunter auch zu einem erschwerten „natürlichen“ Selbstverständnis im Umgang mit dem Sterben.

Wie kann man diesen Umständen begegnen? Gibt es spezielle Ausbildungen in diesem Bereich oder einen fachspezifischen Austausch?

Häufig finden sich Kolleg*innen wohl aufgrund persönlicher Erfahrungen im Palliativbereich und absolvieren den interprofessionellen Palliative Care Basislehrgang, was vor allem für die interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein Basiswissen im Bereich Palliative Care von Bedeutung ist. Geht es allerdings um fachspezifisches Wissen und Austausch, so findet man sich als Palliativpsycholog*in in Österreich häufig allein auf weiter Flur. Der Wunsch nach Vernetzung führte letztlich zu einem Antrag auf Gründung einer Arbeitsgruppe Palliativpsychologie/-psychotherapie in der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG). Die konstituierende Sitzung wird Ende März online stattfinden. Wir erhoffen uns dadurch einen leichteren Austausch und eine Stärkung der Kompetenzen. Ein weiterer Wunsch ist die Etablierung einer berufsspezifischen Fortbildung nach dem Vorbild der deutschen Kolleg*innen. Dort gibt es seit 2012 die Weiterbildung „Palliative Care für Psychologen“, die mittlerweile auch seitens des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) zertifiziert ist und zur Bezeichnung Fachpsychologin/e Palliative Care berechtigt.

Das heißt, da ist gerade viel in Bewegung – was genau ist es, das Palliativpsycholog*innen in einem multidisziplinären Team beitragen können?

Oftmals sind viele Betroffene durch die Nachricht, dass ihre Erkrankung nicht mehr heilbar ist, zutiefst erschüttert. Hinzu kommt, dass Patient*innen zu diesem Zeitpunkt mitunter schon einen sehr langen, Kräfte zehrenden Weg hinter sich haben, der sie und auch ihr soziales Umfeld bereits stark gefordert hat. Umso mehr löst die Erkenntnis, dass sich eine Erkrankung nicht mehr heilen, sondern in ihren Auswirkungen nur noch lindern lässt, einen Teufelskreis aus Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Resignation, Schmerz, Trauer, Verzweiflung, Scham- und mitunter auch Schuldgefühlen aus. Gerade bei derart heftigen Gefühlen – bei den Betroffenen direkt, aber auch bei ihren An- und Zugehörigen und bei betreuenden Strukturen, kann die Begleitung durch Palliativpsycholog*innen hilfreich sein. Wir können dabei unterstützen, Worte für das Unsagbare und möglicherweise Wege für einen Umgang mit der neuen Realität, dem neuen Alltag zu finden. Dies beinhaltet vor allem die aktive gemeinsame Suche danach, was genau Lebensqualität zum gegenwärtigen Zeitpunkt für den jeweiligen Menschen bedeutet. Von großer Bedeutung dabei ist, dass wir empathisch als Mensch da sind und das Unaushaltbare gemeinsam ein Stück weit (er)tragen. Eine Patientin, die ich schon lange begleite, meinte mal zu mir: „Sie waren der erste Mensch, bei dem ich nicht das Gefühl hatte, dass er bei meiner Geschichte am liebsten sofort aufstehen und davonlaufen möchte.“ Genau diese Qualität, dies Da-Sein braucht es. Und neben der direkten Arbeit mit Patient*innen erlebe ich mich als Psychologin immer wieder mal so wie einen Stein im Getriebe. Ich halte es nur schwer aus, wenn über Dinge nicht gesprochen wird – aus Angst, aus falscher Rücksichtnahme oder aus Unwissenheit. Dann sehe ich es als meine Aufgabe, Dinge direkt anzusprechen, Wissen zu vermitteln, um so Sicherheit zu geben und Menschen im Idealfall dazu anzuregen, ihr Tun und Denken zu hinterfragen und möglicherweise neue Wege zu gehen. Dabei leitet mich oft der Spruch: „Alle sagten, es geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat‘s gemacht.“ Ach ja, und ganz, ganz wichtig ist mir, die Kinder nicht zu vergessen. Wir müssen den Kindern stets (kindgerecht) die Wahrheit sagen, diese ist ihnen zumutbar und haben sie verdient. Der Versuch, unsere Kinder durch Fernhalten von existentiellen Themen zu schützen, ist letztlich oft nur ein Selbstschutz, weil die Erfahrung darin fehlt, mit Kindern darüber zu reden.

Können Sie uns zum Abschluss noch verraten, woher Sie in der Arbeit mit diesen existentiellen Themen Ihre Kraft beziehen?

Mir ist wichtig, ehrlich zu bleiben und den Tod nicht zu beschönigen. Oftmals könnte in Zusammenhang mit hospizlicher Haltung das Gefühl entstehen, dass das Sterben romantifiziert wird. Aber das Sterben ist oft nicht schön, der Tod hinterlässt Lücken und ist schmerzhaft. Ich fühle mich immer dann gefordert, wenn es sehr persönliche Berührungspunkte oder gleichzeitig eigene Verluste gibt. Was ich aber an der Arbeit angesichts des Todes schätze, ist, dass sehr ehrliche, tiefgehende, existentielle Begegnungen möglich werden. Man kommt Menschen sehr schnell sehr nah und es entstehen tiefe Beziehungen, die in mir eine große Dankbarkeit hinterlassen. Dankbarkeit für alltägliche Kleinigkeiten und Demut dem Leben gegenüber. Es hilft mir, mit offenen Augen durch die Natur zu gehen, so wie jetzt das Wunder des Erwachens nach dem Winter zu erleben, Ruhe, um mich zu sammeln, die unbändige Lebensfreude meiner Hündin zu spüren, die immer völlig im Moment lebt und natürlich die Nähe mir lieber Menschen. Und Lachen…. Lachen ist wichtig. Auch in den skurrilsten Momenten – denn oft ist Humor, wenn man trotzdem lacht. Und ich lache auch ganz oft mit meinen Patient*innen…

 Der Universitätslehrgang Palliative Care, getragen vom Dachverband Hospiz Österreich, der Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg und St. Virgil Salzburg, hat eine eigene Vertiefungsstufe „Psychosozial – spirituelle Palliative Care“. Näheres zu diesem multiprofessionellen Angebot, das sowohl in Salzburg als auch in Bamberg (D) stattfindet, finden Sie unter https://www.ulg-palliativecare.at/studium/vertiefungslehrgang-psychosozial-spirituelle-palliative-care

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