Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

„Was auch immer es ist, die psychische Erkrankung…“

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Hospiz und Palliative Care bei Menschen mit psychischen Erkrankungen

Marianne Buchegger im Gespräch mit Dr. Stefan Stiglitz

„Stiglitz, wie der Vogel, nur ohne „IE““ sagt Stefan Stiglitz bei unserem ersten Telefonat.  Mir fällt auf, dass ich nicht weiß, wie ein Stieglitz aussieht. Ich brumme sozial zustimmend und mache eine Gedankennotiz, ‚Bild von Stieglitz suchen‘.

Das Aussehen des Vogels ist natürlich nicht der Grund meines Telefonats mit Stefan Stiglitz, sondern seine medizinische Disziplin. Stefan Stiglitz ist Psychiater mit den Schwerpunkten Gerontopsychiatrie, biologische Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Er begleitet Menschen sowohl in freier Praxis, als auch in Pflegeheimen und spricht mit mir über Palliative Care bei Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wir treffen einander zum Telefoninterview.

Marianne Buchegger: Herr Stiglitz, welche Ausbildungen, Fortbildungen oder Werkzeuge brauchen Ihrer Erfahrung nach Mitarbeiter*innen in Pflegeheimen, wenn sie Bewohner*innen mit psychischen Erkrankungen in der letzten Lebensphase begleiten?

Stefan Stiglitz: Natürlich ist Fachwissen hilfreich, Fortbildungen geben Sicherheit im Umgang mit herausfordernden Situationen. Für mich ist dazu ergänzend die Haltung zentral. Und Supervision. Die Haltung, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen – mit all seinen Bedürfnissen, mit seiner Geschichte, mit seinen Erfahrungen und seiner Biografie. Ich erlebe es als zentral, dass die Biografie in die Pflege und Betreuung miteinbezogen wird. So, wie bei Herrn Karl.

Ich wurde vor etlichen Jahren von einer Stationsleitenden um meine Hilfe als Psychiater gebeten. Das „Problem“ war Herr Karl. Er lebte seit einigen Wochen auf der Station und war die meiste Zeit damit beschäftigt, den Boden mit einer Zahnbürste zu reinigen. Wenn die Mitarbeitenden ihn davon abhalten wollten, wurde er sehr aggressiv und verhaltensauffällig. Letztendlich war es so schlimm, dass die Stationsleitung mich um eine medikamentöse Behandlung für Herrn Karl bat, um sein Verhalten zu verändern.

Im Gespräch mit dem Team wurde klar, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Zeit gewesen war, Herrn Karls Biografie zu erstellen. Die Interaktion zwischen Patient und Pflege hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht stattgefunden. Es stellte sich heraus, dass Herr Karl Teppichleger war und ein sauberer Boden für ihn von großer Bedeutung war. Das war ihm daher auch in seinem neuen zu Hause sehr wichtig und entsprechend kümmerte er sich darum.

Mit diesem Hintergrundwissen zu Herrn Karl war es dem Team möglich, anders mit seinem Verhalten umzugehen und ihm Alternativen anzubieten.

Was ich damit sagen möchte, ist, dass pflegerisches und betreuerisches Fachwissen, wie zum Beispiel um die Wichtigkeit der Biografie, unbedingt notwendig ist. Gleichzeitig braucht es die Haltung, den Menschen im Zentrum zu sehen und um das alles gut aushalten zu können, braucht es ein Team.

Niemand kann das allein schaffen – generell die Arbeit mit Menschen und speziell in herausfordernden Situationen, wie zum Beispiel am Lebensende. Es braucht das Team. Das Teilen der Belastung, das gemeinsame Aushalten. Und das Team wiederum braucht die Supervision, die Sicht von außen. Das erlebe ich als sehr wichtig und notwendig.

Marianne Buchegger: Welche Rolle haben die Angehörigen aus Ihrer Sicht?

Stefan Stiglitz: Das ist schwierig…. (überlegt) Meine Erfahrung ist, dass Angehörige oft zum Problem der Betroffenen gehören. Die Erkrankung der Betroffenen ist ja häufig aus einem System heraus entstanden, das kann zum Beispiel die Familie gewesen sein. Die Angehörigen haben immer auch ihre eigenen Geschichten, die sie so handeln lassen, wie sie es tun. Ich erlebe Angehörige oft als Teil des Problems und gleichzeitig als Teil der Lösung. In der letzten Lebensphase kann das aber auch schwierig sein.

Marianne Buchegger: Herr Stiglitz, inwiefern ist Palliative Care bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung anders als bei Menschen ohne psychische Erkrankung? Oder gibt es hier keinen Unterschied in Palliative Care?

Stefan Stiglitz: Ich erlebe immer wieder diese nach wie vor bestehende Stigmatisierung „er oder sie ist psychisch krank und muss daher anders, vorsichtiger, behandelt werden“ als große Hürde. Was auch immer das ist, diese „psychische Erkrankung“, das, was für mich im Mittelpunkt steht, ist der Mensch. Jeder Mensch, egal ob mit einer sogenannten psychischen Erkrankung oder ohne, ist individuell und hat individuelle Bedürfnisse. An diesen orientiere ich mich. Daher kann ich die Frage, ob die Palliative Arbeit bei Menschen mit psychischen Erkrankungen anders ist, für mich mit Nein beantworten. Allerdings braucht es viel an Erfahrung und Fachwissen, die Arbeit im Team und die Haltung, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, um mit diesen fordernden Situationen gut umgehen zu können.

Marianne Buchegger: Herr Stiglitz, vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Stefan Stiglitz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Schwerpunkte Gedächtnisstörungen, Gerontopsychiatrie, biologische Psychiatrie und Psychopharmakologie, Neuroimmunologie, Akutneurologie und Schlaganfallmanagement