Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Herz, Hirn und Verstand – Palliative Care bei Menschen mit Demenz

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Marianne Buchegger im Gespräch mit Nikolina Babic:

Nikolina Babic ist stellvertretende Wohnbereichsleitung und Palliativbeauftragte bei der CS Caritas Socialis Veitingergasse. Ich treffe sie an einem herbstlichen Freitag zum Gespräch.

Was bedeutet Palliative Care für Dich?

„Palliative Care bedeutet für mich, Sorge tragen für andere Menschen. Aber auch, meine eigenen Grenzen zu kennen. Denn nur, wenn ich mich und meine Grenzen kenne, kann ich für andere Sorge tragen, also palliativ arbeiten.“

In unserem Gespräch über Hospizarbeit und Palliative Care bei Menschen mit Demenz spielt das Thema Grenzen immer wieder eine Rolle. Eigene Grenzen, die Grenzen der betroffenen Menschen, aber auch die Grenzen der Angehörigen.

„Angehörige sind ein essenzieller Teil im Pflege- und Betreuungsnetz. Ohne sie würden wir viele Details der Biografien unserer Bewohnerinnen und Bewohner nicht kennen, da sie selbst uns oftmals nicht mehr erzählen können, was sie geprägt hat. Was sie glücklich oder traurig gemacht hat, wie ihre Rituale ausgesehen haben. Diese Informationen helfen uns zu verstehen, was unsere Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrem Verhalten ausdrücken wollen. Welche Verluste sie durch die Demenz erleben und was sie zurücklassen müssen. Dieses Verlusterleben erzeugt Leid und Schmerz auf unterschiedlichen Ebenen.“

Du sprichst von Total Pain…

„Genau. Um das Leid, das Menschen am Ende ihres Lebens erleben, erfassen zu können, ist es wichtig, Total Pain zu kennen und zu verstehen. Zu verstehen, dass es mehr als den körperlichen Schmerz und das körperliche Leid gibt. Den seelischen und sozialen Schmerz zum Beispiel. Gleichzeitig müssen wir bei Menschen mit Demenz immer mitbedenken, dass ihre Schmerzäußerungen anders als unsere sind.

Wir haben zum Beispiel vor einiger Zeit Herrn L., einen Herren mit fortgeschrittener Demenz, begleitet. Als Herr L. bei uns eingezogen ist, war er ruhig und hat zufrieden gewirkt. Im Laufe der Zeit wurde er jedoch immer aggressiver, hat Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und andere Bewohnerinnen beschimpft. Einer der ersten Gedanken galt dem sozialen und psychischen Leid, da Herr L. aus seiner gewohnten Umgebung weg- und bei uns im Pflegewohnheim einziehen musste. Wir begegneten ihm validierend und mäeutisch, aber sein Verhalten blieb unverändert. Wir haben Herrn Ls. Verhalten und die Auswirkungen im Team besprochen und sind dadurch auf die Spur eines körperlichen Schmerzes gekommen. Gemeinsam mit unserer Ärztin konnten wir den körperlichen Schmerz von Herrn L. behandeln und sein Verhalten veränderte sich sehr schnell.

Was ich damit sagen möchte, ist, dass Total Pain sehr wichtig ist, wir aber bei Menschen mit Demenz niemals vergessen dürfen, dass die Äußerungen von körperlichen Schmerzen anders aussehen als bei uns.“

Abgesehen von den Schmerzäußerungen – was macht Palliative Care bei Menschen mit Demenz anders als, zum Beispiel, bei Tumorpatientinnen und -patienten?

„In meiner Wahrnehmung ist es vor allem das Begleiten des kontinuierlichen Verlustes. Das Verlusterleben bei Menschen mit Demenz ist wohl anders als bei Menschen ohne Demenz. Menschen mit Demenz erleben Verlust, der sich über Jahre zieht und ihnen immer mehr nimmt. So erlebe ich auch den Sterbeprozess bei Menschen mit Demenz anders und länger andauernd. Und gerade im Sterbeprozess ist es häufig so, dass ihnen keine Sprache mehr zur Verfügung steht, um Schmerzen zu äußern. Wir sind in diesen Situationen besonders achtsam auf, zum Beispiel, die Anspannung des Körpers, Laute oder Veränderungen des Atems. All dies kann ein Zeichen für Schmerz sein. Um gut palliativ arbeiten zu können, braucht es daher eine entsprechende Ausbildung und Schulungen, aber vor allem auch Achtsamkeit, Einfühlungsvermögen und Herz. Herz, Hirn und Verstand, sozusagen…

Abgesehen von der Arbeit mit betroffenen Menschen sehe ich den Unterschied aber auch in der Begleitung der Angehörigen.  Wir begleiten unsere Bewohnerinnen und Bewohner vom Einzug bis zum Tod – ihre Angehörigen auch noch darüber hinaus. Über die Jahre hinweg entwickelt sich eine Beziehung zu den Angehörigen und nicht selten passiert es, dass sie nach dem Tod der Bewohnerin oder des Bewohners dann als Ehrenamtliche bei uns arbeiten.“

Was berührt Dich nach wie vor?

„Lebensgeschichten und Angehörige, die wir begleiten. Ich erzähle Dir eine Geschichte, die mich noch immer tief berührt:

Wir haben Frau S. viele Jahre betreut. Sie ist bei uns mit einer leichten, beginnenden Demenz eingezogen, die sich im Laufe ihrer Zeit bei uns immer weiter verschlechtert hat. In all den Jahren, in denen sie bei uns gewohnt hat, ist ihr Sohn jeden Mittwoch und Samstag zu Besuch gekommen.

Frau S. Sohn, Herr S., hat eine geistige Behinderung, wohnt jedoch allein und arbeitet in einer betreuten Werkstatt. Der Besuch zweimal wöchentlich war seine Struktur. Und die Struktur seiner Mutter. Im letzten Jahr hat sich der Zustand von Frau S. deutlich verschlechtert, es war klar, dass sie bald versterben wird. Ich habe mit den Betreuern des Sohnes telefoniert und gebeten, dass sie mit ihm sprechen und ihn unterstützen, was sie auch getan haben. Parallel dazu habe auch ich mit ihm gesprochen, Herr S. hat so sehr geweint, er sagte „Ich will nicht, dass meine Mama stirbt“. Wir haben unsere Seelsorge organisiert, um ihn zusätzlich zu unterstützen. Am Tag ihres Versterbens war Herr S. nicht allein, wir waren bei ihm.

Wir sehen uns als Teil des Sorgenetzes, das unsere Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch deren Angehörige trägt. Wir begleiten Herrn S. auch heute noch.“

Nikolina Babic ist stellvertretende Wohnbereichsleitung im Pflegewohnhaus Veitingergasse der CS Caritas Socialis GmbH. Sie ist Palliativbeauftragte und Absolventin des länderübergreifenden Lehrgangs „Palliative Geriatrie“ der FGPG, Fachgesellschaft Palliative Geriatrie.

Bildquelle: www.pexels.com