
Wenn Menschen an Rehabilitation denken, dann wohl nicht unmittelbar an das Lebensende und schon gar nicht an Hospiz und Palliative Care. Viel eher erinnern sie sich an den Bandscheibenvorfall oder die Hüftoperation, die anschließend zu einer Rehabilitation führten.
Wir werden anders sterben
Das Überleben schwerer Erkrankungen, in der Fachliteratur „Survivorship“ genannt, wird in der Versorgung von Patient*innen eine immer größere Rolle spielen. Die gute Nachricht ist, dass viele Menschen immer älter werden. Die weniger gute, dass dies nicht automatisch in guter Gesundheit sein wird. Die Fortschritte der Medizin lassen uns heute und in Zukunft Krankheiten überleben oder mit diesen länger leben, an denen wir vor einigen Jahren rasch gestorben wären. Wir werden aber mit den Nebenwirkungen der Therapien und vielen chronische Krankheitszuständen konfrontiert sein. Kombiniert mit der demografischen Entwicklung ergeben sich daraus interessante Zahlen: Hochrechnungen aus England gehen davon aus, dass 2040 ca. 42% mehr Menschen palliative Begleitung brauchen werden als heute. Für die Behandler*innen bedeutet dies, dass sie sich gut mit komplexen chronischen Erkrankungen, die in absehbarer Zeit zum Sterben führen werden, samt deren psycho-sozialen und spirituellen Dimensionen auskennen müssen (Etkind et al., 2017).
Was bedeutet dies für die Gesellschaft und Hospiz und Palliative Care?
Brauchen wir noch mehr stationäre Pflegeeinrichtungen? Werden die Kosten für Versorgung am Lebensende weiter steigen? Brauchen wir viele weitere Pflegekräfte? Vermutlich sind diese Fragen alle mit einem „ja“ zu beantworten. Und es braucht noch etwas anderes: Ein erweitertes Verständnis von Versorgung und Begleitung von Menschen hin zum Lebensende. Denn eines der primären Ziele wird sein, die Zeit der Pflegebedürftigkeit trotz schwerer und fortgeschrittener Erkrankung so kurz und die der Selbstständigkeit so lange wie möglich zu halten.
Der Fokus von Sterbenden: Ängste, Bedürfnisse und Lebensqualität
Zu den Hauptängsten von sterbenden Menschen gehört, dass Symptome nicht ausreichend kontrolliert werden. Gute Symptomkontrolle bedeutet allerdings nicht automatisch, dass die Lebensqualität insgesamt verbessert wird. Denn zu den weiteren großen Sorgen gehören, jemand anderem zur Last zu fallen und die Selbstständigkeit zu verlieren. Es gibt zahlreiche Patient*innen, bei denen die Symptomkontrolle „nur“ ein Mittel zum Zweck ist, um hinsichtlich ihrer Aktivitäten des täglichen Lebens (gehen zu können, den Haushalt so gut es geht zu bewältigen, selbstständig die Toilette benutzen zu können) selbstständig zu bleiben oder es wieder zu werden. Die soziale Teilhabe spielt ebenfalls eine zentrale Rolle: Wie schaffe ich es, meine Rolle als Partner*in oder Großelternteil etc. so lange wie möglich aktiv zu gestalten? Hierzu brauchen die Patient*innen Unterstützung von Expert*innen für Aktivität, Selbstbefähigung und Eigenständigkeit. Die Zielformulierung einer Begleitung sollte immer auf der Aktivitätsebene (was sollte der*die Patient*in -wieder oder noch – tun können?) und auf der Partizipationsebene (welche Ziele hat der*die Patient*in hinsichtlich seiner sozialen Teilhabe?) erfolgen. Daher muss die nächste Frage konsequenterweise lauten: Wie können wir dies als Team erreichen? Es geht darum, die Patient*innen nicht auf ihre Krankheit und Symptome zu reduzieren (Tiberini und Richardson, 2015) und zu verhindern, dass ihnen (zu) viel abgenommen wird, um sie nicht in die Passivität zu drängen.
Rehabilitative Palliative Care
Rehabilitative Palliative Care hat als oberstes Ziel, den Menschen dabei zu helfen, die bestmögliche Selbstständigkeit (wieder) zu erlangen, zu erhalten und die Zeit der Abhängigkeit von anderen so kurz wie möglich zu halten (Tiberini und Richardson, 2015). Obwohl Rehabilitation meist mit vollständiger Wiederherstellung assoziiert wird, besteht in diesen Fällen allerdings kein Zweifel, dass diese Patient*innen sterben werden. Die Bedeutung des Wortes „re-habilitare“ kommt hier besonders zur Geltung: wieder ermöglichen. Um den Menschen (wieder) Dinge ermöglichen zu können, sind verschiedene Elemente nötig:
Aktivität bis hin zu Training führt bei schwerkranken Menschen in allen Krankheitsstadien zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität. Es werden nicht nur der Körper gekräftigt und die für den Alltag benötigte Ausdauer verbessert. Aktivität und Training in der Palliativsituation haben positiven Einfluss auf die Symptomlast, auf etwaige depressive Verstimmungen, auf das Selbstbewusstsein, die Selbstständigkeit, auf die Durchführung von Aktivitäten des täglichen Lebens und helfen bei der Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten. Leider erhalten nach wie vor viele Patient*innen den Rat, sich zu schonen, was in der Regel aber zu einer Verschlechterung der Situation führt. 92% aller onkologischen Palliativpatient*innen würden gerne an Aktivitäts- und Trainingsprogrammen teilnehmen, das gilt auch für Patient*innen mit einer Lebenserwartung von weniger als einem Jahr. Selbst PatientInnen in der Terminalphase würden gerne körperlich aktiver und mobiler sein. Die wichtigste Botschaft, die Patient*innen erhalten sollten, lautet „Vermeiden Sie Inaktivität“. Optimal wäre das natürlich bereits bei Diagnosestellung, aber in diesem Falle gibt es (fast) kein zu spät. Allerdings brauchen Patient*innen Hilfe, die Aktivität wiederzufinden, da im Prozess von fortschreitenden Erkrankungen Ängste bestehen, sich zu schaden (Sheill, 2021). Erste Zahlen dazu lassen vermuten, dass die Förderung der Selbstbefähigung auch weniger Ressourcen braucht und damit kostengünstiger ist, weil keine umfassende „Versorgung“ angestrebt wird und auch unnötige weitere Behandlungen verhindert werden (Tiberini und Richardson, 2015).
Early integration bedeutet die frühzeitige Einbeziehung der Palliative Care und auch die der therapeutischen Berufe. Der rasche Blick auf Aktivitäten, Potentiale, Möglichkeiten und körperliche Ressourcen von Patient*innen ist gerade in einer Phase, in der der Fokus oft auf Problemen und Defiziten liegt, besonders bedeutsam.
Edukation von Patient*innen und Angehörigen ist ein zentraler Bestandteil der rehabilitativen Palliative Care. Den Ängsten in Phasen von schweren Erkrankungen mit Informationen darüber zu begegnen, was Patient*innen und Angehörige selbst tun können, unterstützt das Ziel der Selbstbefähigung. Das Prinzip, nur die Hilfe zu geben, die tatsächlich benötigt wird, um Selbstwert und Eigenständigkeit der Patient*innen zu erhöhen, erfordert natürlich achtsame Begleitung und immer wieder Anpassungsmaßnahmen im Prozess.
Rehabilitative Palliative Care ist als Teamaufgabe zu verstehen und liegt nicht ausschließlich in der Verantwortung der mit Rehabilitation assoziierten Berufsgruppen. Viel Kommunikation ist dazu nötig und sich von den Zielen der Patient*innen und deren Angehörigen leiten zu lassen, ist hilfreich. (Tiberini und Richardson, 2015). Erste Pilotprojekte in England zeigen, dass in mobilen Palliativteams, die von Physiotherapeut*innen oder Ergotherapeut*innen geleitet werden, eine besondere Perspektive auf die Rehabilitation für das gesamte Team möglich wird.
Die eigene Haltung sterbenden Menschen gegenüber ist ein wichtiger Faktor dafür, wie gut Rehabilitation auch am Lebensende noch gelingen kann. Was trauen wir den sterbenden Menschen zu? Oder, wie Cicely Saunders meinte: „Wir können Sterbenden durchaus Mut zutrauen.“
Rainer Simader leitet seit 2019 das Bildungswesen im Dachverband Hospiz Österreich. Als Physiotherapeut arbeitete er viele Jahre lang mit schwerkranken und sterbenden Menschen, unter anderem auch im „Rehabilitation Gym“ im St. Christophers Hospice in London. Er ist Mitglied des fachlichen Netzwerks Physiotherapie in der Palliative Care und Onkologie von PhysioAustria, hat die Task Force Physiotherapy der EAPC mitbegründet und ist Mitglied des Leitungsteams Universitätslehrgang Palliative Care und Leiter dessen Vertiefungsstufe für medizinisch-therapeutische Berufsgruppen.
Save the date:
Fachtag „Lebensqualität am Lebensende – die Rolle der medizinisch-therapeutischen Berufe in Palliative Care„: 22. Jänner 2022 online. Nähere Informationen ab voraussichtlich Oktober unter www.veranstaltungen-hospiz.at
Der neue Vertiefungslehrgang (Level 2) für medizinisch-therapeutische Berufe des Universitätslehrgangs Palliative Care startet im Oktober 2022. Nähere Informationen unter https://ulg-palliativecare.at/studium/vertiefungslehrgang-medizinisch-therapeutischeberufe